Einen Kunstverein zu betreiben ist eine öffentliche Handlung, und was öffentlich ist, ist politisch bzw. hat das Potenzial, politisch zu sein. Vorstand und Leitung von Kunstvereinen sollten – daher und auch aufgrund der historischen Erfahrung im deutschsprachigen Raum – ihrer gesellschaftlichen Verantwortung entsprechend eine antidiskriminierende Haltung einnehmen und sich proaktiv gegen soziale Ungleichheiten positionieren. Menschen befinden sich in einem stetigen Lernprozess, und unsere Gegenwart verlangt einen gemeinsamen Ruf nach Veränderung und nach dem Verlernen systematischer Diskriminierungsgewohnheiten. Ein derartiges Umdenken findet praktische Anwendung in Kunstvereinen, die die Aufgabe erfüllen, durch Präsentation und Vermittlung zeitgenössischer Kunst, gefertigt von Künstlern jeglichen Geschlechts und jeglicher Herkunft, außerschulische Bildung und Aufklärung zu leisten. Sie sind Räume des Sehens und des freien Denkens, in Kunstvereinen wird debattiert und kontrovers diskutiert, Meinungen werden geäußert und Konflikte werden ausgehalten.

Laut Art. 5 Abs. 3 Grundgesetz ist das hohe Gut der Kunstfreiheit ohne eine Ermächtigung zu einschränkenden Gesetzen, also »vorbehaltlos« gewährleistet. Insofern stellt sich die Frage nach einem Recht zu Absagen von geplanten Ausstellungen in Kunstvereinen, deren Inhalte sie eigentlich der Öffentlichkeit gegenüber vermitteln wollten: Absagen aufgrund von politischen Äußerungen von Künstlerinnen oder Künstlern, die diese oft nicht in Print- sondern im Rahmen der digitalen sozialen Medien wie Facebook, TikTok oder vor allem Instagram öffentlich machen. Können in Institutionen, die aufgrund ihrer demokratisch organisierten Struktur, die durch zivilgesellschaftliches Engagement direkt in breit gefächerte Teile der Bevölkerung wirken, die dem Anspruch folgen, die aktuell gefährdete Demokratie zu stärken, die Schranken anderer Grundrechte wie der Meinungs- oder der allgemeinen Handlungsfreiheit auf die Kunstfreiheit übertragen werden, obwohl dies rechtlich nicht zulässig ist?

Es ist nun schon fast ein Jahr her, dass sich die Leitung des Kunstvereins München gegen die geforderte Schließung einer Einzelausstellung mit Kunstwerken der palästinensischen Künstlerin Noor Abuarafeh entschied. Diese hatte auf ihrem privaten Instagram Account einen Post des »Interim Revolutionary Feminist Committee (IRFC), Southern California Chapter« nach Eröffnung der Ausstellung geteilt. Darin wurden die Mitglieder der palästinensischen Terrororganisation Hamas, die am 7. Oktober 2023 auf brutale und hinterhältige Weise Israel angegriffen und dadurch einen bis heute dauernden Krieg im Gazastreifen eröffnet hatten, unter anderem als »Palestinian Freedom Fighters« bezeichnet – zudem wurde deren massenhafte sexuelle Gewalt gegen Frauen angezweifelt. Als Reaktion auf diese Handlung wurde eine Schließung der Ausstellung gefordert. Dieser Forderung, verbunden mit einer Einschränkung der Kunstfreiheit aufgrund des Gebrauchs des Rechts auf freie Meinungsäußerung der Künstlerin, kam hingegen der Kunstverein München nicht nach. Er veröffentlichte Mitte Oktober ein Statement, in dem er sich von dem Post von Noor Abuarafeh »ausdrücklich und umfassend« distanziert und formuliert: »Wir sind erschüttert über die Ereignisse und eskalierende Gewalt im Nahen Osten und verurteilen den brutalen Angriff der Hamas-Terroristen aufs Schärfste. Wir verurteilen zudem, insbesondere vor dem Hintergrund unserer eigenen institutionellen Geschichte, entschieden jeglichen Antisemitismus. Unsere Gedanken und Solidarität gelten den Opfern und ihren Angehörigen. Es scheint uns jedoch wichtig zu betonen, dass Palästinenser*innen in Gaza nicht kollektiv für das menschenverachtende Massaker der Hamas verantwortlich gemacht werden dürfen. Unsere Gedanken und Solidarität gelten folglich auch ihren Opfern und Angehörigen.« Hiermit einhergehend wurde für eine Aufrechterhaltung des dialogischen Miteinanders auch mit der Künstlerin plädiert und formuliert: »Wir haben uns entschlossen, die Ausstellung zum Zeitpunkt unseres Statements nicht zu schließen, da wir als Kunstinstitution eine Schließung nicht für eine angebrachte Reaktion für diesen Konflikt ansehen und einen differenzierten Dialog mit kritischen und politischen Themen für zentral halten.«

Diese im Statement des Kunstvereins München formulierte Aussage gegen Einschränkung der Kunstfreiheit und für die Verantwortung für die öffentliche Vermittlung der künstlerisch formulierten Inhalte der Arbeiten von Noor Abuarafeh vermittelt eine Haltung, verbunden mit einer Differenzierung zwischen Meinungs- und Kunstfreiheit und der Aufforderung zu konstruktivem Gespräch und Aufrechterhaltung der Debattenkultur. Der seit dem 7. Oktober 2023 politisch festgefahrene Konflikt zwischen Israel und Palästina darf nicht dazu führen, dass in offenen Diskursräumen wie Kunstvereinen Konflikte nicht mehr diskutiert, debattiert und ausgehalten werden. »We need to talk! Now and in the future!« – nach dieser Maxime sollten Plattformen zur Stärkung der Demokratie, wie Kunstvereine es sind, handeln und nicht eine mögliche Einschränkung der Meinungsfreiheit zur Einschränkung von Kunstfreiheit missbrauchen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 9/2024.