Stell Dir vor, es ist Kalter Krieg, und alle machen mit: In etwa so wirkt die politische Dynamik der Wissenschafts- und Kulturlandschaft im Deutschland des Jahres 2024. Das Gleichgewicht des Schreckens, Signatur der auf den Zweiten Weltkrieg folgenden Jahrzehnte demokratisch-kommunistischer Systemkonkurrenz, ist wieder zurück. Weniger allerdings auf dem Terrain der zwischenstaatlichen Beziehungen, wo man sich spätestens seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine die irrationale Konstellation des atomaren Patts zweier imperialer Antagonisten fast schon wieder zurückwünschen würde. Der neue Kalte Krieg tobt im Landesinneren, auf dem Feld der symbolischen Kämpfe, und die bevorzugte Waffe im ideologischen Konflikt ist die des Boykotts. Wer hier etwas auf sich hält, kennt bei dem Versuch, sein Gegenüber zum Schweigen zu bringen, kein Halten mehr. Dabei hat die Auseinandersetzung tendenziell noch archaischeren Charakter angenommen als zu Zeiten der bipolaren Welt. Auge um Auge, Zahn um Zahn, das Prinzip der »flexible response« war gestern: Heute folgt auf die Wahrnehmung vermeintlich oder tatsächlich unerträglicher Äußerungen der jeweils gegnerischen Seite die äußerst vorhersehbare Reaktion, den oder die Kontrahentin mundtot zu machen, sei es nun per Ausladung oder Anschwärzung, Runtermachen oder Niederschreien.
Wo fing das an und wann? Eigentlich egal, oder jedenfalls: müßig, dies aufklären zu wollen. Feststehen dürfte allerdings, dass der im Jahr 2005 lancierte Aufruf der internationalen BDS-Kampagne zur kulturellen (»Boycott«), wirtschaftlichen (»Divestment«) und politischen (»Sanctions«) Isolierung Israels auch für die deutsche Diskurs- und Interaktionsdynamik eine entscheidende Weichenstellung bedeutete. Eigentlich fraglos, dass sich vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Geschichte Boykottaufrufe gegen jenen Staat, der als Zufluchtsstätte für die Überlebenden der Shoah gegründet wurde, für Deutsche bzw. von Deutschland aus verbieten sollten – und zwar moralisch wie politisch. Ebenso klar aber sollte auf der Hand liegen, dass der Bundestagsbeschluss von 2019, mit dem unter anderem kommunale Raumverbote für BDS-Veranstaltungen begrüßt und also der Ausschluss von BDS-Positionen aus dem öffentlichen Diskurs gefordert wurden, von einer antiliberalen Denk- und Handlungsweise kündet. Kein Zufall, dass dieser mit überwältigender Mehrheit gefällte Beschluss die Reaktion auf einen teils gleichlautenden, teils weitergehenden Antrag der AfD im Deutschen Bundestag darstellte – wie vorher und nachher so oft, konnte die rechtsextreme Partei auch hier die politische Kultur der Bundesrepublik in ihrem Sinne beeinflussen: Was uns ideologisch nicht passt, ist aus dem öffentlichen Raum zu entfernen.
Seither gehen Ausschlüsse und Absagen, Aufrufe und Anklagen hin und her. Wo man auch hinsieht, überall staatlich, parastaatlich oder zivilgesellschaftlich zerstörte »Fettecken«. Wer akademische Boykottaufrufe unterstützt, wird postwendend selbst akademisch boykottiert – so geschehen etwa im Falle der US-amerikanischen (jüdischen) Philosophin Nancy Fraser, der die Universität zu Köln wegen der Forderung nach internationaler Isolierung israelischer Wissenschaftsinstitutionen die bereits zuerkannte Albertus-Magnus-Professur entzog. Was soll man davon halten? Am ehesten dürfte wohl die Einschätzung zutreffen, dass es sich hier um organisierten Irrsinn, genauer um Irrsinn im Quadrat handelt: Wie kann man – als gebildeter Mensch – auf die Idee kommen, Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, gleich welcher disziplinärer Zuordnung und ideologischer Tendenz, ungeachtet ihrer politischen Praxis, allein aufgrund ihrer Staatszugehörigkeit (oder auch ihres Glaubensbekenntnisses) zu personae non gratae der akademischen Welt zu erklären und sie damit – die NS-Assoziation ist beabsichtigt – in politische Sippenhaft zu nehmen? Wie kann man wiederum – als akademische Institution – zu der Überzeugung gelangen, dass nicht die intellektuelle Auseinandersetzung, sondern die administrative Ausbootung das Mittel der Wahl sei, um die Absurdität des wissenschaftlichen Boykottaufrufs zu kontern und sich mit den von Boykottforderungen Betroffenen zu solidarisieren? Haben beide Seiten womöglich Angst vor dem Konflikt, Probleme mit der Differenz – entgegen ihrer bei jeder Gelegenheit zum Besten gegebenen Präferenz für »diversity«?
Man muss genau dies befürchten. Wer Boykott sät, wird Boykott ernten – doch geschieht ihm oder ihr damit nicht Recht, sondern beide Seiten, die boykottfordernde wie die boykottpraktizierende, begeben sich damit ins politisch-intellektuelle Nirwana. Der Boykott ist die Bankrotterklärung der viel zitierten und oft beschworenen demokratischen Öffentlichkeit. Boykotte sind der Inbegriff einer schrecklichen Vereinfachung, der Herrschaft des exkludierenden Affekts in der vermeintlich offenen Gesellschaft. Wer dieser Herrschaft entgegentreten will, muss ins Risiko gehen und den Boykott boykottieren. Aussichtslos? Es würde ja schon genügen, auf den Wurf des ersten Steins zu verzichten.