Seit einigen Jahren werden Öffentliche Bibliotheken immer häufiger zu Schauplätzen politischer Auseinandersetzungen. Während die Problematisierung ihrer Bestandspolitik oder gar die mutwillige Zerstörung missliebiger Medien bereits auf eine lange Geschichte zurückblicken, sind Kritik und öffentlicher Protest gegen einzelne Programmangebote eine vergleichsweise junge Erscheinung. Nicht zufällig fallen diese zusammen mit einer erst in jüngster Zeit in Deutschland aufgekommenen breiteren Diskussion über die Rechte von Minderheiten.
Davon, dass der Zeitgeist, der antidemokratische Strömungen global in ansonsten freiheitlich verfassten Gesellschaften antreibt, auch in deutschen Bibliotheken zu spüren ist, zeugt unter anderem der Protest gegen eine von Dragkünstler*innen durchgeführte Kinderlesung in der Stadtteilbibliothek Bogenhausen in München im vergangenen Jahr. Dieser hatte nur vordergründig mit der öffentlich formulierten Sorge um das Kindeswohl zu tun, welche eine umgehende Prüfung durch das städtische Jugendamt als gänzlich unbegründet zurückwies. Vielmehr waren Kommentare auf rechtsextremen Foren – die im bayerischen Landtagswahlkampf bereitwillig aufgenommen wurden – der Ausgangspunkt für den medialen Shitstorm gegen die Münchner Stadtbibliothek. Eine kritische bis reißerische Medienbegleitung führte zu einer Welle uninformierter Empörung; zum Teil von höchster Stelle formulierte politische Statements fanden Eingang ins Kabarett bei »Quer«, »ZDF Magazin Royale« oder »Heute Show«. Die Bibliothek wurde sechs Wochen lang in einen Ausnahmezustand versetzt, am Tage der Veranstaltung fanden sich rund 800 Demonstrantinnen und Demonstranten am Ort des Geschehens ein: Vertreterinnen und Vertreter von Querdenkern, AfD, Identitären und christlichen Fundamentalisten sahen sich glücklicherweise einer großen Überzahl der liberalen und queeren Stadtgesellschaft Münchens gegenüber. 200 Polizisten auf der Straße und acht Zivilbeamtinnen und -beamte in den Bibliotheksräumen sorgten für die Sicherheit der Künstlerinnen und Künstler sowie der Teilnehmenden.
Auch die mutwilligen Zerstörungen von Büchern in der Zentralbibliothek des Berliner Bezirks Tempelhof-Schöneberg stehen exemplarisch für diesen antidemokratischen Zeitgeist, der wohl nicht mehr so leicht in die Flasche gesperrt werden kann. Immer wieder hatte jemand ab 2021 gezielt Titel aus den Regalen der Bibliothek gezogen, heimlich zerrissen und dort zurückgelassen, die sich kritisch mit der NS-Vergangenheit, mit Rechtsextremismus sowie mit sozialistischer Geschichte befassen. Die Berliner Stadtbibliothek entschied in dieser Situation bewusst, mit den Vorfällen an die Öffentlichkeit zu gehen, da damit die Grenze der Meinungsfreiheit weit überschritten worden war. Es ging um etwas Grundsätzliches, nämlich um den Versuch, eine kritische Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus zu unterbinden – ein klarer Angriff auf die Demokratie.
Ein entsprechender Tweet ging schließlich viral; dadurch bekamen auch diese Vorfälle eine bundesweite mediale Aufmerksamkeit. Was folgte, war eine große Welle der Solidarität aus Politik, Öffentlichkeit, anderen Bibliotheken sowie von den betroffenen Autorinnen, Autoren und Verlagen. Dennoch blieb es schwer, als Stadtbibliothek in dieser Situation ausgewogen zu reagieren und auf dem schmalen Grat zwischen Haltung-Zeigen und der Wahrung der Sicherheit für Personal, Nutzerinnen und Nutzer zu balancieren, und das stets in Erwartung eines Shitstorms von rechts. Glücklicherweise traf dieser trotz der großen öffentlichen Aufmerksamkeit nie ein. Schließlich konnte im vergangenen Jahr ein Tatverdächtiger polizeilich ermittelt werden; ein gerichtliches Verfahren gegen ihn steht derzeit noch aus.
Die Erfahrungen aus München und Berlin stehen beispielhaft für unterschiedlich skalierte konfliktäre gesellschaftliche Öffnungs- wie Grenzziehungsprozesse, die in den vergangenen Jahren in einer ganzen Reihe von Bibliotheken in Deutschland, Österreich und der Schweiz gemacht worden sind. Traditionell berufen sich Bibliotheken – die am stärksten in der Fläche präsenten non-formalen Bildungs- und Kulturorte – auf ihren nach Artikel 5 des Grundgesetzes verbrieften Auftrag, Informationsfreiheit zu gewährleisten, ohne die eine freie Meinungsbildung und damit eine lebendige Demokratie nicht möglich sind. Die vielzitierte parteipolitische Neutralität von Bibliotheken bleibt dabei weiterhin zentral, ist aber nicht zu verwechseln mit einer Werteneutralität. Die jüngeren Diskussionen über Formen der Diskriminierung in unserer Gesellschaft machen deutlich, dass es öffentlicher Institutionen wie nicht zuletzt Bibliotheken bedarf, die mit ihren Medien- und gerade den Programmangeboten für junge Menschen unmissverständlich für Artikel 1 des Grundgesetzes – »Die Würde des Menschen ist unantastbar« – einstehen.
Denn Bibliotheken zählen – in Analogie zu dem von ihnen präsentierten breiten Medienspektrum – zu gesellschaftlichen Resonanzräumen der Demokratie, in denen Vielfalt erfahrbar wird und Dissens auszuhalten ist, in denen das Zuhören und Erfahren von anderen Meinungen und anderen Lebensformen wichtiger ist als das insbesondere in sozialen Medien eingeübte Immer-schon-alles-Wissen. Ohne derartige öffentliche Orte der Begegnung ist es schwer, eine gesamtgesellschaftliche Wirklichkeit erfahrbar zu machen.
Damit Bibliotheken auch künftig solche Orte bleiben, brauchen sie notwendig ein Recht auf eine unabhängige bibliothekarische Bestands- und Programmarbeit – am besten verankert in einem eigenen Gesetz auf Bundesebene. Freilich entbindet ein solches Recht die Bibliothek nicht von ihrer berufsethischen Pflicht, sich selbstkritisch mit öffentlichem Protest und Kritik an ihrer Arbeit auseinanderzusetzen.