Kunstfreiheit und Christentum – dieses Verhältnis ist komplizierter, als man meinen würde. Denn am Anfang war zwar das Wort, doch gleich danach kam schon die Blasphemie. Das zeigt eine der ältesten bildlichen Darstellungen des Gekreuzigten. Sie ist nicht zufälligerweise ein Spottbild. Auf einem römischen Graffito, um das Jahr 200 datiert, sieht man ein Strichmännchen, das eine Gestalt anbetet, die am Kreuz hängt und einen Eselskopf trägt. Darunter steht: »Alexamenos verehrt seinen Gott«. Damit wollte sich jemand über einen christlichen Bekannten lustig machen. Man kann dies nachvollziehen, denn einen Hingerichteten als Messias zu verehren, war in der Antike selbst eine blasphemische Idee. Deshalb wurde die frühe Christenheit vielfach wegen Gotteslästerung verfolgt.

Das änderte sich, als das Christentum vom Rand in die Mitte und dann an die Spitze vorneuzeitlicher Gesellschaften rückte. Jetzt konnte es eine eigene Kultur entwickeln und Aufträge an Kunsthandwerker und Künstler erteilen. Eine Einschränkung der »Kunstfreiheit« gab es damals nicht. Das moderne Konzept ästhetischer Autonomie war ja noch nicht erfunden worden. Kirchliche Auftraggeber und künstlerische Auftragnehmer bildeten wie selbstverständlich eine Arbeitsgemeinschaft – und großen Künstlern gelang es schon im Mittelalter, ihre eigenen Vorstellungen umzusetzen. Ein Gegensatz zwischen kirchlicher Kultur und säkularer Kunstfreiheit entstand erst mit der Moderne, als Künstler sich ihre Autonomie erkämpften. Wie hätten sie das sinnfälliger zeigen können als mit religionskritischen Bildern? Deshalb ist die Geschichte der modernen Kunst nicht nur, aber ganz wesentlich auch eine der Blasphemien. Das führte zu heftigen Kulturkämpfen zwischen den Prinzipien der Toleranz und der Kunstfreiheit einerseits sowie den Gefühlen der Gläubigen und den Dominanzansprüchen der Kirchen andererseits. In dem wunderbaren Buch »Verfluchte Götter. Die Geschichte der Blasphemie« von Gerd Schwerhoff (2021) kann man alles Wissenswerte darüber erfahren.

Es hat gedauert, bis auch Kirchenvertreter das Recht des aufklärerischen Arguments einsahen, dass der Unendliche von endlichen Kunstkreationen gar nicht gelästert werden könne, so dass es hier nur um eine Verletzung menschlicher Gefühle gehe. Damit kann man unterschiedlich umgehen: Manchmal ist es sinnvoll, unnötige Verletzungen zu vermeiden, manchmal aber muss man dem aggressiven Wehgeschrei der Frommen entgegentreten. Einer der berühmtesten Streitfälle brachte einen besonders klugen Kopf dazu, das Entscheidende zu sagen. Von 1928 bis 1931 wurde George Grosz der Prozess wegen seiner Grafik »Christus mit Gasmaske« gemacht. Kirchenvertreter hatten darin eine Verhöhnung Christi sehen wollen, obwohl Grosz nur die unselige Verbindung von Kirche und Militarismus kritisieren wollte. In der »Weltbühne« schrieb der von mir sehr verehrte Ludwig Marcuse, dass es nicht richtig sei, einigen Gruppen zu gestatten, die Äußerungen anderer Gruppen zu beschränken, indem ihre und nur ihre Gefühle zum Tabu erklärt würden: »Toleranz heißt: seine heiligen Gefühle nicht profanieren zu einer Bevormundung des Nebenmenschen. Man zweifelt doch sehr an der Heiligkeit von Gefühlen, die sich weniger in einem beseligenden Glauben äußern als im Hass gegen die Manifestationen der Ungläubigen.« Marcuse forderte deshalb: »Die Privilegien im Anstoßnehmen müssen endlich aufhören!«

Die evangelische Kirche in Deutschland hat längst ihren Frieden mit der modernen Kunst gemacht und versucht eher, das konstruktive Potenzial künstlerischer Provokationen zu entdecken, als sinnlose Verbotsversuche zu starten (was nicht heißt, dass es nicht gelegentlich doch zu einem Streit über Kunst in der Kirche kommt). Auch in der katholischen Kirche gibt es viele kunstsinnige Menschen, die ähnlich denken. Allerdings hat kürzlich eine unbekannte Person in Linz einer zeitgenössischen Marienfigur, die sie für anstößig hielt, den Kopf abgesägt. Doch einmal habe ich mich selbst gegen die Kunstfreiheit engagiert. Erinnert sich noch jemand an »DAU«? 2018 sollte mitten in Berlin wieder eine Mauer errichtet werden. Das aus Russland kommende Kunstprojekt »DAU« wollte einen temporären Ort des Totalitarismus schaffen – mit Soldaten, Spitzeln, Überwachung und einer Mauer drum herum. Man hielt es nicht für nötig, die evangelische Friedrichswerdersche Kirche, die im ausgewählten Areal lag, zu informieren. Per Post stellte man ihr eine Einverständniserklärung zu. Darauf reagierte sie allergisch. Kurz zuvor nämlich hatte ihr der Bau von Luxus-Immobilien in unmittelbarer Nähe schwere Schäden zugefügt. Nun folgte mit vergleichbar imperialistischer Ruppigkeit ein Kunstprojekt. Die Kirchengemeinde legte Protest ein. Das brachte die üblichen Verdächtigen aus dem Kulturbetrieb dazu, eine Petition gegen diesen vermeintlichen Angriff auf die Kunstfreiheit zu veröffentlichen. Ich habe damals die Kirchengemeinde unterstützt. Bin ich deshalb ein Feind der Kunst?

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 9/2024.