»Critical Classics« ist eine Initiative, die ein generelles Bewusstsein für diskriminierende Sprache in Opernlibretti wecken und anhand praktischer Beispiele eine Diskussion anregen will, wie mit aus ihrer Sicht problematischen Inhalten von Opern umgegangen werden kann. Das Libretto der Oper »Die Zauberflöte« wurde aus diesem Grund verändert. Sandra Winzer sprach mit zwei Mitgliedern des Teams von »Critical Classics«.
Sandra Winzer: Herr Schneider, wer in die Oper geht, darf nicht zu verletzlich sein – denn Diskriminierung oder unangepasste Sprache kommt in den meisten Werken vor. »Critical Classics« möchte das ändern …
Berthold Schneider: Ja, die Initiative ist aus dem Bewusstsein entstanden, dass wir im klassischen Opernrepertoire Texte finden, die aus heutiger Sicht problematisch sind. Wir möchten das Bewusstsein für diskriminierende Sprache in Opernlibretti fördern. Es reicht nicht aus, problematische Textstellen durch die Regie zu kontextualisieren, auch, weil sie teilweise in ihr Gegenteil gekehrt werden müssten, um für das moderne Publikum annehmbar zu sein. Unsere Gesellschaft ist in Bezug auf Diskriminierung in den letzten Jahren sensibler geworden; die Schere zwischen den Originalen und dem, was wir aus heutiger Sicht für vertretbar halten, geht weiter auseinander. Wir wünschen uns die Diskussion über angemessenen Umgang mit problematischen Inhalten nicht nur bei Kinderbüchern oder Kinofilmen, sondern auch im Bereich der Oper.
Für diese Entwicklung haben Sie ein interdisziplinäres Team zusammengestellt. Wer gehört dazu?
Schneider: Die breite Aufstellung im Team halten wir für wesentlich. Zu unserem Team zählen Dirigentinnen und Dirigenten, Sängerinnen und Sänger, Dramaturginnen und Dramaturgen und Menschen aus dem Verlagswesen. Ganz wichtig sind auch Menschen aus dem Bereich des Sensivity Reading sowie Diversity-Expertinnen und -Experten. Unser heterogenes Team identifiziert potenzielle Probleme aus unterschiedlichen Blickwinkeln, nicht nur durch die »professionelle Opernbrille«. Viele Menschen im Publikum besuchen die Oper zum ersten Mal – deren unverstellter Blick muss unser Maßstab sein.
Das Opernrepertoire besteht größtenteils aus Werken des 18./19. Jahrhunderts. Man stößt auf Sexismus, Rassismus, Exotismus … Wie kann es gelingen, die Umgangsformen und Rollenbilder an die heutigen Werte anzupassen, ohne das Eigene des Stückes zu verlieren?
Leyla Ercan: Nachjustierungen können unter Beibehalt der Kernaussagen eines Klassikers gelingen. Oft handelt es sich um kleine, fast unsichtbare Veränderungen. Weiblich gelesene Rollen etwa, die mit stark negativ konnotierten Eigenschaften versehen sind (z. B. »Weiber, die lügen«), versuchen wir abzumildern und diskriminierungsärmere Ausdrucksweisen zu finden. Es gibt aber auch subtilere Anpassungen – etwa bei Handlungs- und Redeanteilen von männlich und weiblich gelesenen Rollen. Wie handlungswirksam und -treibend sind die Figuren? All das haben wir im Blick.
Schneider: Dabei ist es sinnvoll zu fragen: Wen stellen wir uns als Publikum vor? Bei einem Werk, das zunächst in einem höfischen Theater aufgeführt wurde und dann in ein bürgerliches Theater wechselte, wurden auch damals Arien hinzugefügt oder Szenen gestrichen. Szenen im Schlafzimmer etwa waren an liberalen Höfen möglich, an anderen nicht. Auch hier passte man sich den Werten des Publikums an.
Ercan: Unsere Vorschläge bleiben dabei wandelbar. Politische Ereignisse wie der Nah-Ost-Konflikt und gesellschaftliche Diskurse in Deutschland beeinflussen mögliche Veränderungen am Text. Wir versuchen immer am Puls der Zeit zu bleiben und die Diskurse sorgfältig mitzuschneiden, um entsprechende Vorschläge machen zu können. Sie sind ergebnisoffen und dürfen variiert werden.
Sie sind überzeugt davon, dass der Kult des europäischen Genies überwunden werden muss. Was genau meinen Sie damit?
Ercan: Hier geht es um eine Art »Heiligsprechung« der Autorenschaft. Im Musiktheater hält sich der Genius-Kult besonders stark, weil mehrere Künste (Musik, Gesang, Komposition, Text) verwoben sind. Diese Komplexität machte Oper lange unveränderlich. Das ist in anderen Künsten nicht so. In den 1990er Jahren, als ich Literaturwissenschaften studierte, sprach man explizit vom »Tod des Autors«, den Barthes und Foucault schon Ende der 1960er proklamiert hatten. Das heißt: In dem Moment, in dem der Autor das Werk in die Welt sendet, ist er tot. Das Werk gehört dann dem Publikum und der Leserinnenschaft, jenen Menschen, die das Werk rezipieren. Der Autor spielt keine Rolle mehr dafür, wie das Werk interpretiert und aufgenommen wird.
Ein weiteres Problem der modernen Aufführungspraxis ist, dass problematische Inhalte oft ersatzlos weggelassen werden – eine Form von Cancel Culture. Welche praktikableren Lösungen schlagen Sie bei Mozarts »Zauberflöte« vor?
Schneider: Grundlage unserer Arbeit war die Einschätzung, dass es möglich ist, die »Zauberflöte« modernen Werten anzupassen, ohne ein gänzlich neues Stück schreiben zu müssen. Mozart und Schikaneder setzen auf Kontraste: Männer-Frauen, Tag-Nacht etc. – so auch bei der Figur des Monostatos. Als einzige Person of Colour ist er zunächst dem Tag zugeordnet und wechselt dann ins Lager der Nacht. Theatralisch-künstlerisch ist das effektvoll, aber natürlich ist die Zeichnung dieser Figur rassistisch. Heutzutage sehen wir auf den Bühnen oft eine Figur, die sich lediglich durch ein kleines Detail, etwa durch ein Tattoo, von den anderen Figuren unterscheidet. Diese »Glättung« erscheint den Intentionen der Autoren nicht angemessen. Man versteht nicht, dass Monostatos eine grundsätzlich rassistisch diskriminierte Figur ist. In unserer Edition schlagen wir vor, dass er der illegitime und verleugnete Sohn Sarastros ist, von diesem aber nicht anerkannt wird. Die Ideen sollten in ihrer »Stärke« dem ursprünglichen Konflikt angemessen sein.
Weiteres Beispiel ist die Figur des Papageno: ein Naturbursche und Vogelfänger, der eingängige Musik mit volksmusikantischem Ton singt und sich im Original oft herabwürdigend über Frauen äußert. Andere Figuren auf der Bühne lassen seine Äußerungen unkommentiert. Solche Texte vor Publikum gesprochen – auch vor Kindern – muss man ernst nehmen. Wir radieren nicht zwingend Papagenos Aussagen aus, sondern schlagen Antworten und Kommentare für andere Figuren vor, die seine Äußerungen in Frage stellen.
Welche Diskurse möchten Sie mit »Critical Classics« langfristig stützen?
Ercan: Wir möchten dazu ermutigen, unser kulturelles Erbe immer wieder neu zu überdenken. Es braucht eine systematische und multiprofessionelle Auseinandersetzung im Klassikbereich, denn die Rezeptionsvoraussetzungen wandeln sich permanent. Heute ist das Publikum vielfältiger: Es sitzen auch junge Menschen ohne Klassikerfahrungen, queere Menschen, People of Colour und in heterogenen Lebenswelten aufgewachsene Menschen im Publikum. Der gesellschaftliche Wandel wirkt sich auf die Künste aus. Wenn wir zeitgemäß und zukunftsfähig bleiben möchten, muss man sich damit beschäftigen.
Schneider: Heutzutage können wir ein Opernkunstwerk nicht mehr auf die Bühne stellen wie eine Figur auf einen Sockel, an der sich das Publikum reibt. Oper entsteht im Bewusstsein des rezipierenden Publikums – mit jeder Aufführung neu.