Gabriele Schulz: In der Kultur gab es zwei große Auslöser für die intensivere Beschäftigung mit dem Thema »Schutz vor Gewalt«. Der eine war die MeToo-Debatte um Harvey Weinstein. Daraus ist eine Welle entstanden, insbesondere, was das Thema sexualisierte Gewalt angeht. Der zweite Strang, ungefähr zur gleichen Zeit, waren Debatten um die Musikhochschulen in Deutschland. Aus dieser Diskussion ist vieles entstanden. Für den Bereich Film, Fernsehen und Theater wurde von Branchenverbänden Themis gegründet, eine Beratungsstelle, an die sich von sexualisierter Gewalt Betroffene wenden können. Und es begann eine intensive Diskussion in den Ausbildungsstätten. Als Deutscher Kulturrat haben wir im letzten Jahr dann einen sehr umfänglichen Dialogprozess zum Thema »Respektvoll arbeiten in Kunst, Kultur und Medien« initiiert.
Michaela Röhrbein: Wir haben das Thema seitens des Dachverbandes schon vor der MeToo-Debatte aufgegriffen, mit der sogenannten Münchener Erklärung des DOSB in 2010. Die Deutsche Sportjugend war dabei über lange Zeit die treibende Kraft. Am Anfang stand der Umgang mit sexualisierter Gewalt im Sport im Fokus. 2010 wurde ein systematischer Prozess in Gang gesetzt, der dann immer mehr Power bekam. Heute reden wir nicht mehr nur von sexualisierter Gewalt, sondern nehmen alle Gewaltformen in den Blick. 2024 haben wir uns das erste Mal eine umfassende Strategie zu diesem Thema gegeben.
Ehrenamtlicher und professioneller Kontext
Schulz: Im Kulturbereich spielt insbesondere das große Thema Diskriminierung eine wichtige Rolle. Beide Themen, Diskriminierung und sexualisierte Gewalt, sind miteinander verbunden. Der Dialogprozess, den wir jetzt ein Jahr lang geführt haben, hat die Themen nochmal sehr stark miteinander verschränkt. Im Kulturbereich ist die Diskussion im ehrenamtlichen Kontext, insbesondere mit Blick auf Kinder und Jugendliche, deutlich getrennt vom professionellen Bereich. Der Dachverband der kulturellen Kinder- und Jugendbildung verortet sich im Spannungsfeld zwischen Jugendpolitik, Bildungspolitik und Kulturpolitik und hat als erster ein dachverbandliches Schutzkonzept entwickelt, das jetzt auch in den Einzelverbänden der kulturellen Bildung umgesetzt und konkretisiert wird. Bis zu unserem Prozess war das sehr stark getrennt von dem, was im professionellen Kontext passiert.
Röhrbein: Ich sehe da Parallelen, aber auch Unterschiede. Man kann das vergleichen mit dem Breitensportbereich, mit unseren 86.000 Sportvereinen an der Basis. Aus den Vereinen heraus gibt es Übergänge in den Leistungssport und in den Hochleistungssport. Der Hochleistungssport ist in der Regel von professionellen Trainern oder Trainerinnen geführt, anders als im Breitensport. Man hat festgestellt, dass im Hochleistungssport eher Übergriffe konstatiert werden. Eine These, die im Raum steht, lautet, dass es dort noch stärkere Abhängigkeitsmechanismen gibt. Der Auslöser ist sehr oft die psychische Gewalt, die die Basis für alle weiteren Gewaltformen bereitet. Von daher versuchen wir, keine Gewaltform mehr allein zu betrachten. Wir arbeiten intensiv an einer Kultur des Hinsehens. Ein starker Fokus liegt auf den Themen Schutzkonzept und Prävention. Dazu kommt die Intervention, und jetzt fangen Strukturen zu wachsen an in Hinblick auf die Aufarbeitung. Das war lange Zeit ein Tabu.
Abhängigkeiten
Schulz: Was die Aufarbeitung angeht, sind Sie uns vielleicht sogar ein Stück voraus. Ich habe nicht den Eindruck, dass diese im Kulturbereich eine starke Rolle spielt, zumindest keine öffentliche. An den Hochschulen ist das allerdings anders. Ich vermute, dass es diesbezüglich eher Parallelen gibt. Im Kulturbereich besteht sehr oft ein sehr enges Verhältnis zwischen Lehrenden und Studierenden, vor allem durch den Eins-zu-Eins-Unterricht sowie das Klassenprinzip. Natürlich entstehen dadurch Abhängigkeiten. Das sind, denke ich, Mechanismen, die dazu führen, dass einige sich davor scheuen, in die Öffentlichkeit zu treten, weil die Sorge besteht, dass die Karriere dadurch behindert oder zerstört wird.
Röhrbein: Da sehe ich eine ganz klare Analogie zum Hochleistungssport. Es gibt auch die Eins-zu-Eins-Situationen mit Trainerinnen und Trainern. Irgendwann geht es darum, wer für die Europameisterschaft oder für die Weltmeisterschaft nominiert wird. Kommt man in den Kader zu den Olympischen oder Paralympischen Spielen? Natürlich wird versucht, die Auswahlverfahren zu objektivieren. Trotzdem liegt die Entscheidung dann auch bei einem Gremium, teilweise beim Trainer oder der Trainerin. Da wird das Abhängigkeitsverhältnis deutlich.
Anlaufstellen
Schulz: Im Kulturbereich gibt es, wie schon gesagt, speziell für Film, Fernsehen, darstellende Kunst und Musik, seit 2018 die Themis Vertrauensstelle, die auf sexualisierte Gewalt und auf die genannten Sparten spezialisiert ist. Diese Stelle wird im Wesentlichen von Verbänden finanziert; dazu kommt eine staatliche Förderung von der Beauftragten für Kultur und Medien. Aber für jemanden, der oder die z. B. im Bereich der Bildenden Kunst oder dem Design betroffen ist, ist Themis nicht zuständig. Man muss dann sehen, dass man z. B. bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes Hilfe bekommt.
Röhrbein: Bei uns gibt es seit dem vergangenen Jahr eine Anlaufstelle »Safe Sport« für den Breiten- und Leistungssport, die vom Bund finanziert wird. Die Länder sind auch finanziell beteiligt. In diesem Jahr haben wir uns als DOSB bereit erklärt, anteilig mitzufinanzieren Wir haben darüber hinaus viele Anlaufstellen in unseren Mitgliedsorganisationen, auch viele Landessportbünde haben unabhängige Stellen, die sie finanzieren und die regional tätig sind.
Verständnis für partizipative Prozesse entwickeln
Röhrbein: Ich würde gerne das Stichwort Dialogprozess aufnehmen. Es ist sicher wichtig, dass der Dachverband Ziele vorgibt. Aber ein Dachverband kann nur so stark sein, wie die Akzeptanz in den Mitgliedsorganisationen ist. Deswegen ist es wichtig, ein Verständnis über partizipative Prozesse zu entwickeln. Wir haben in unserer DOSB-Mitgliederversammlung ein Stufenmodel beschlossen. Danach sollen unsere Mitgliedsorganisationen und dann wiederum deren Untergliederungen schrittweise konkrete Maßnahmen einführen. Eine zweite Beschlussfassung galt im letzten Jahr dem Zukunftsplan »Safe Sport«. Wir haben uns eine Zehn-Jahres-Strategie gegeben, die auch in einem sehr partizipativen Prozess miteinander ausverhandelt wurde. Eine Besonderheit ist, dass parallel noch ein weiterer Prozess seitens des BMI (Bundesministerium des Innern und für Heimat) läuft. Es soll ein Zentrum für Safe Sport geben, das komplementär zu unserer Struktur arbeitet. Das dort reingeht, wo wir Bedarfe haben, z. B. im Bereich der Intervention. Das könnten wir gar nicht für alle unsere Mitgliedsorganisationen leisten.
Schulz: Letzteres ähnelt ein bisschen dem, was bei uns lief. Wir haben unseren Dialogprozess im letzten Jahr als partizipativen Prozess gestartet, an dem sehr viele, sehr unterschiedliche Verbände und Organisationen beteiligt waren. Im Juni steht die Verabschiedung des gemeinsam erarbeiteten Papieres an. Deutlich wurde in diesem Prozess, dass alle künstlerischen Bereiche von diesem Thema betroffen sind und daher eine Vertrauensstelle für alle künstlerischen Sparten dringend erforderlich ist. Ein weiterer Ertrag war, dass das Thema Schutzkonzepte in den Fokus rückte.
Wir hatten es im Prozess mit voneinander getrennten Welten zu tun. Wer professionell z. B. als Filmproduzent oder Filmproduzentin arbeitet, hat mit dem, was in den Vereinen passiert, nichts zu tun. Man musste zunächst einmal eine Ebene finden, auf der man miteinander sprechen konnte. In unserem Dialogprozess hat die Frage, ob es eine übergreifende Vertrauensstelle für alle Sparten geben soll, eine wichtige Rolle gespielt. Im Kulturbereich haben wir viele kleine oder Kleinstunternehmen. Die durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz vorgesehenen betriebsinternen Beschwerdestellen bei Diskriminierung oder auch sexualisierter Gewalt laufen daher teilweise ins Leere, weil Anonymität nicht gewährleistet werden kann. Ein wesentliches Moment dieses Dialogprozesses war auch, dafür das Bewusstsein zu schärfen und zu verdeutlichen, wie breit die Betroffenheit ist. Letztlich geht es darum, innerbetriebliche oder auch innerverbandliche Mechanismen zu entwickeln, damit sicheres und respektvolles Arbeiten selbstverständlich ist. Das fordert alle Beteiligten. Denn es geht nicht nur um das Verhalten von Vorgesetzten, sondern auch um das Einschreiten innerhalb der Belegschaften.
Röhrbein: Ein Punkt, quasi die Essenz unserer Diskussion war, dass wir ein Regelwerk für den Sport brauchen, weil wir ganz häufig über Tatbestände sprechen, die unter der Strafgerichtsbarkeit laufen. Wir reden da über ein Regelwerk, das darlegt, welche Gewaltformen es gibt, und das im Fall von Verstößen ein Verfahren aufzeigt, wie wir damit umgehen.
Schulz: Auch im Kulturbereich sind die Knackpunkte die, die unterhalb der Strafbarkeit liegen. Einige unserer Mitgliedsverbände haben einen solchen Codex bereits. Es gibt auch Institutionen, die Betriebsvereinbarungen haben.
In unserem Dialogprozess wurde deutlich, dass das Thema jeden angeht, einen kleinen Gesangsverein, eine Galerie oder auch ein größeres Unternehmen. Keiner kann sich davon freisprechen: Da gab es bei einer ganzen Reihe von Teilnehmenden eine gewisse Erleichterung darüber, dass auch andere mit diesem Thema ringen.
Unterschiedliche Wahrnehmung
Schulz: Mich würde noch ein anderes Thema interessieren. Wie ist es im Sport mit der Betroffenheit von Männern und Frauen? Gibt es solche Formen der Gewalt auch gegenüber Männern?
Röhrbein: Die Studien und Erhebungen geben aus, dass erheblich mehr Frauen und Mädchen betroffen sind. Allerdings ist das ein Ergebnis der Selbstauskunft. Wenn man aber bestimmte Situationen beschreibt und dann fragt: »Hast du so eine Situation schon mal erlebt?«, dann haben wir plötzlich ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Männern und Frauen. Männer nehmen die Situation anders wahr und erleben sie für sich erstmal nicht als diskriminierend oder als gewaltvoll.
Schulz: So wird es auch von Themis berichtet. Dort melden sich mehrheitlich Frauen, deutlich über 50 Prozent. Offenbar ist das für Männer peinlicher, insbesondere, wenn die Gewalt von Frauen ausgeübt wird. Das macht es noch einmal schwerer, sich zu öffnen und Rat zu suchen.
Schutz des Ehrenamts
Röhrbein: Wir haben immer die Sorge, mit diesen vielen Themen das Ehrenamt zu überlasten. Übungsleitende oder Funktionsträgerinnen oder -träger zu finden, ist bei uns eine Herausforderung. Eine andere Dimension von Gewalt ist, dass Engagierte, Funktionsträger Gewalt von außen ausgesetzt sind, wenn sie sich zum Beispiel für Demokratie einsetzen. Gemeinsam mit der Deutschen Stiftung für Ehrenamt und Engagement schreiben wir gerade ein Schutzkonzept für Ehrenamtliche. Das wäre dann euch etwas für den Kulturbereich. Ich denke, dass es häufig doppelt Engagierte gibt und man von den Erfahrungen aus anderen Bereichen lernen kann.
Schulz: Ich sehe auch, dass sich die Engagierten ohnehin schon sehr belastet fühlen. Die Idee, aktive Vereinsmitglieder auch gegenüber Hass und Hetze zu schützen, nehme ich gerne auf. Ohne das Engagement der Menschen vor Ort, würde ganz vieles nicht funktionieren. Daran werden wir uns bestimmt gerne beteiligen.