Steht ein sportliches oder kulturelles Großereignis an, kann man in Deutschland die Uhr danach stellen, wie lange es dauern wird, bis die jeweils passende Erzählung aus der Mottenkiste nationaler Narrative gezaubert wird: Geht es um Sport, bevorzugt um Fußball oder die Olympischen Spiele, wird das »Sommermärchen« entstaubt, steht ein deutsches respektive europäisches Jubiläum oder ein Festakt sonstiger Art ins Haus, wird unverzüglich Ludwig van Beethovens Neunte Symphonie mit ihrer berauschenden Ode an die Freude aufgelegt. In beiden Fällen soll den anderen, aber vor allem sich selbst vermittelt werden, dass man, so unterschiedlich die imaginierte Gemeinschaft der Sportfans oder der Staatsangehörigen ist, so gebeutelt und zerstritten sie auch sein mag, schließlich zusammenkommen und sich in der Euphorie nationaler Errungenschaft wieder die Hand zur einträchtigen Gemeinschaft reichen könne.

Gerade mit den zwei sportlichen Großereignissen dieses Sommers, eines davon sogar auf heimischem Boden, erleben wir ein erneutes Aufblühen dieses Narrativs, das ganz wesentlich vor der Folie der Erinnerung an die WM 2006, dem Ursprung des »Sommermärchens«, funktioniert.

Und gewiss wohnt sowohl dem Sporttreiben als auch Kunst und Kultur, etwa in Gestalt des Musizierens, eine integrative Kraft inne, die uns über unsere Gegensätze und Differenzen hinwegblicken und uns davon unabhängig Qualitäten ineinander erkennen lässt. Doch wer annimmt, das bloße Zusammenkommen, um freudig an der Aktivität anderer teilzuhaben, bringe uns gesellschaftlich über die Gräben von Rechtsextremismus, Rassismus und sozialer Ungleichheit hinweg, verkennt, dass diese Reizthemen während der Großveranstaltungen nicht gelöst, sondern schlichtweg nicht angesprochen werden.

Passiert es hingegen doch, wie bei der Fußball-WM 2022 in Katar, ist der Aufruhr groß. Dabei sollten wir den Sport, ebenso wie die Kultur, nicht aus ihrer Verantwortung entlassen, sich öffentlich zu Missständen und Problemen zu verhalten, die sie tangieren. So weh das dem verständlichen Bedürfnis nach eskapistischer Feierstimmung auch tun mag. Man stelle sich nur einmal vor, wie die gesellschaftlichen Reaktionen ausfielen, wenn eine demokratische Regierung nichts zu Korruptionsvorwürfen sagen würde oder sich die Filmbranche nicht mit den Missbrauchsvorwürfen der MeToo-Bewegung auseinandergesetzt hätte. Wieso also beim Sport mit anderen Maßen messen? Die Forderung nach der Positionierungszurückhaltung des Sports beruht letztlich auf der Annahme, dass er genuin unpolitisch sei und in seinem eigenen Vakuum stattfinde. Selbstredend ist das Wunschdenken; dass inzwischen diejenigen Gehör finden, die ihn in die Verantwortung ziehen, attestiert ihm keine neue Bedeutung, sondern macht sichtbar, was ihm seit Jahr und Tag innewohnt. Seine gesellschaftliche und politische Bedeutung ernst zu nehmen, könnte schließlich auch heißen, ihn in seiner inkludierenden Kraft zu begreifen.

Damit könnte man auch der Entwicklung gegensteuern, dass nach wie vor viele Menschen mit Migrationsgeschichte ihre sportlichen oder kulturellen Sympathien trotz einer deutschen Sozialisierung den Herkunftsländern der Eltern widmen, da es der deutschen Gemeinschaft seit jeher nicht gelingt, umfassende Zugehörigkeit zu vermitteln. Vielleicht muss sie das auch gar nicht leisten, aber die Behauptung, es fiele ihr nicht schwer, gehört ja zu ihrem sonnigen Selbstbild. Tatsächlich aber funktioniert die Zugehörigkeit zur imaginierten Gemeinschaft Deutschland allzu oft über das Kriterium der Leistung, was auf der Kehrseite den Ausschluss derjenigen bedeutet, die nicht mehr, nicht genug oder gar noch nie leisten konnten. Ungezählte Beispiele auf großer wie auf kleiner Bühne zeigen, welche hässlichen Auswüchse diese Logik in Deutschland annehmen kann. Und dass selbst herausragende Leistungen und Integration keine Garanten für uneingeschränkte Zugehörigkeit sind, zeigte Anfang des Jahres die Oscar-Nominierung des deutsch-türkischen Regisseurs Ilker Ҫatak, der neben den Namen von Sandra Hüller und Wim Wenders kaum gewürdigt wurde.

Hätte die Behauptung des Sommermärchen- und »Alle Menschen werden Brüder«-Pathos also tatsächlich Gehalt, so hätten wir spätestens nach dem Sieg der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 – dem Zenit fußballerischer Leistungen und der Fanekstase – die Verbesserung oder zumindest eine Stabilisierung gesellschaftsklimatischer Verhältnisse erleben müssen. Stattdessen aber kehrte mit den Flüchtlingsbewegungen des Folgejahres die deutsche Rechte wieder auf das Tableau der Öffentlichkeit zurück und entflammte damit nur einen der zahlreichen Brandherde, die diese Gesellschaft fortan erschüttern sollten.

Viel interessanter als die etlichen Sollbruchstellen dieses fragilen Konzepts der Überhöhung nationaler Kulturen freizulegen, ist es deshalb, sich zu fragen, was diese nicht totzukriegende idée fixe deutschen Selbstverständnisses über ihre Vertreter aussagt. Denn in jedem von ihnen manifestiert sich die Sehnsucht nach einem Aufbruch, paradoxerweise häufig in rückwärtsgewandter Richtung, in eine geradezu herzerwärmend konstruierte Gemeinschaftsidylle. Wie genau diese Gesellschaft aber »wieder« zusammenwachsen, »wieder« harmonischer oder solidarischer werden soll, und was das in aller Konsequenz für ihre Konstitution bedeuten würde, dazu hat wohl jeder Anhänger seine eigene Vorstellung. Es reicht nicht, sich auf einen Frieden im Sinne der bloßen Abwesenheit von Gewalt zu einigen, wenn der eine darunter versteht, dass doch bitte die Stimmen der postmigrantischen Bevölkerung endlich leiser werden, der andere ebendiese zur Stärkung des demokratischen Pluralismus befürwortet und all das einem Dritten egal ist, solange sich Sport und Kultur nur wieder auf ihr Tagesgeschäft konzentrieren, anstatt sich ständig in Menschenrechts- und Missbrauchsskandalen zu verstricken. Wenn das aufgeladene Pathos rund um unsere kulturellen Großereignisse also nur bedeutet, darin geeint zu sein, sich eine harmonische Gemeinschaft zu wünschen, dann – herzlichen Glückwunsch – geht die Erzählung auf. Denn »den Frieden«, wer will ihn nicht? Doch wehe dem, der es wagt, nach seiner Gestalt zu fragen; ihn könnte die schmerzhafte Realität überraschen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 7-8/2024.