In den intellektuellen Eliten unserer Gesellschaft ist die Annahme weit verbreitet, dass »Kultur« und »Sport« zwei voneinander getrennte Bereiche sind, die beide im alltäglichen Leben eine große Bedeutung haben, wobei der Kultur ein prioritärer Status zugebilligt wird. Meines Erachtens weisen diese Annahmen Missverständnisse auf, deren Aufklärung dringend erforderlich ist, wenn man die wichtigsten Säulen unserer Kultur – die Kunst, die Musik, die Literatur, den Sport und alle weiteren menschlichen Ausdrucksformen, die durch das Merkmal des »nicht notwendig Seins«, des Überflüssigen, des Außergewöhnlichen, des Schönen etc. gekennzeichnet sind – erfassen und einordnen möchte. Es sind jene Bereiche unserer Kultur, bei denen es sich lohnt, dass man sie gegenüber einer Fremdbestimmung durch Politik und Wirtschaft beschützt und ihre Autonomie – in subsidiärer Abhängigkeit zu einem demokratischen Staat – bewahrt und fördert.
Das erste Missverständnis ist die Annahme, dass es sich bei Sport und Kultur um zwei unterschiedliche Entitäten handelt. In allen mir bekannten Gesellschaften dieser Welt ist Sport ein wichtiger Teil von deren Kultur so wie auch Malerei, Musik, Literatur Teile der jeweiligen gesellschaftlichen Kultur sind. Alle diese kulturellen Teilbereiche zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht notwendig und doch sehr bedeutsam für das Zusammenleben von Menschen in dem Kulturkreis der jeweiligen Gesellschaften sind. Beim Betrachten, beim Zuhören, beim Zuschauen, bei ihrer Ausführung hinterlassen die kulturellen »Œuvres« Eindrücke, Erinnerungen, Gefühle, Emotionen, Erfahrungen und Erlebnisse. Sie können flüchtig sein wie ein mit Parallelschwüngen gezeichneter »Zopf« in einem Neuschneehang. Sie können immer wieder reproduzierbar sein wie so mancher kulturell bedeutsame Torschuss bei außergewöhnlichen Fußballspielen. Kulturelle Œuvres lassen Ästhetik, Schönheit, Kunstfertigkeit, außerordentliche Kraft, Schnelligkeit und Ausdauer, Strategie und Taktik, besondere »Skills«, Können und Meisterschaft erahnen, wodurch jene, die sich durch besondere kulturelle Leistungen in den angesprochenen Bereichen auszeichnen, sich gegenüber dem Alltag, gegenüber ihren Mit-Menschen, gegenüber der Normalität und gegenüber der Welt des Notwendigen in gewisser Weise erhöhen und damit den Gesellschaften und deren Kulturen etwas Besonderes schenken, das von vielen Mitgliedern dieser Gesellschaft als unverzichtbar und als besonders lebenswert erachtet wird.
Die »Künstler« aus dem Bereich des Sports unterscheiden sich von jenen Künstlern, die uns ihre Schaffenskraft in den Bereichen der Literatur, der Malerei, der Musik, des Designs oder der Architektur zeigen, dadurch, dass deren Lebensspanne für ihr künstlerisches Handeln in den von ihnen gewählten Sportarten zeitlich meist sehr begrenzt ist und angesichts der Risiken, die die »Sportkunst« als körperliche Kunst zwangsläufig mit sich bringt, von heute auf morgen beendet werden kann. Ein weiteres Merkmal, das die übrigen Künste von der Kunst des Sports unterscheidet, ist wohl auch auf Seiten der Betrachter dieser Künste zu sehen und zu erkennen. Die Zuschauer des Sports zeichnen sich nicht selten durch eine lokale, regionale und nationale »Fan-Kultur« aus, die sowohl folkloristische als auch chauvinistisch-nationalistische und aggressive Merkmale besitzen kann. Die sonst übliche eher passive Rolle der Zuschauer bei der Betrachtung von Künsten, die allenfalls durch einen lautstarken Szenen- oder Schlussapplaus ergänzt sein kann, wird im Sport von einer eher aktiven, auch sich selbst darstellenden, dominanten und lautstarken Rolle der Zuschauer abgelöst. Anders als die übrigen Künste ist die Kunst des Sports in ihren Darstellungsmöglichkeiten wesentlich auf die Massenmedien und dabei vor allem auf das Fernsehen angewiesen. Ohne die Massenmedien hätte der Sport seine heutige kulturelle Bedeutung niemals erreichen können.
Ein weiteres Missverständnis muss in der Annahme gesehen werden, dass in der Kultur ein »oben« und »unten«, eine »höhere« und eine »niedere Kultur« zu unterscheiden sind. In diesem Missverständnis liegt unter anderem die Ursache, warum die »Kultur des Sports« von vielen nicht als Teil unserer gesellschaftlichen Kultur gesehen wird. Vergleichbares lässt sich auch für die Pop-Kultur beobachten. Doch sehr viele körperkulturelle Ausformungen, wie sie im System des Sports zu beobachten sind, dürfen ohne Zweifel den Anspruch erheben, eine bedeutsame Rolle in den relevanten Kulturen dieser Welt zu spielen.
Besondere kulturelle Werke haben für jede Gesellschaft ihren besonderen Wert. Wird ein besonderes Werk gar mit dem Status eines »Weltkulturerbes« ausgezeichnet, so kann der Wert eines kulturellen Werkes bis ins Unermessliche gesteigert werden. Der Wert eines derartigen Werkes ist nicht nur ideeller Art. Es hat immer auch eine besondere materielle Bedeutung. Angesichts dieses Merkmals kultureller Werte kann es nicht überraschen, dass die Kultur einer Gesellschaft immer auch vielfältigen Einflüssen von außen ausgesetzt ist und dass sehr oft Fremdinteressen an sie herangetragen werden. Jede kulturelle Erscheinungsform unterliegt somit auch der Gefahr der Instrumentalisierung, Ausbeutung und Fremdbestimmung; sie kann für politische Zwecke vereinnahmt und missbraucht werden. Dies galt und gilt für die Kunst, die Musik, die Literatur und für den Sport gleichermaßen.
Aus der Sicht von heute ist von einem umfassenden Missbrauch der Kultur in Deutschland während der Zeit des Nationalsozialismus zu sprechen. Dies gilt vor allem für die Olympischen Spiele, Berlin 1936, die zur Propaganda eines Unrechtsstaates missbraucht wurden. Ein kultureller Missbrauch – nicht nur des Sports – ließ und lässt sich immer wieder auch in China, in der Sowjetunion und später in Russland, aber auch in den USA während des Vietnamkrieges und in einer ganzen Reihe weiterer Staaten aufzeigen, die ihre totalitären Strukturen mittels internationaler Sport- und Musikveranstaltungen verschleierten.
Soll sich die Kultur in einer Gesellschaft positiv entwickeln, so benötigt sie Autonomie. Doch in der Geschichte der Kultur ist die autonome Kultur die Ausnahme. Diese benötigt kulturelle Freiheit, und die Träger der jeweiligen Kultur sollten sich durch politische Unabhängigkeit und Neutralität auszeichnen. Was die Kultur hervorbringt, sollte nicht für »etwas«, sondern für »sich selbst« stehen. Es bietet sich geradezu an, dass sich die Kulturschaffenden in freiwilligen Vereinigungen organisieren, die sich durch einen »non-governmental« Status auszeichnen. Jeder Teilbereich unserer Kultur muss über »Instrumente« verfügen, die sie gegenüber jeder Form der staatlichen Bevormundung oder gar einer Verstaatlichung schützen.
Die Geschichte der Kulturen hat uns gezeigt, dass dies schon seit vielen Jahrhunderten meist nur sehr selten gelingt. Die notwendige subsidiäre Beziehung zu einem staatlichen Gebilde und damit zu den Bürgerinnen und Bürgern eines Staates, die jeder Kulturbereich einer Gesellschaft aufweisen muss, um die notwendigen finanziellen Hilfen für seine Weiterentwicklung zu erhalten, wird viel zu oft in ihr Gegenteil, in eine staatliche Bevormundung und in eine Ausbeutung der Kulturgüter verkehrt.
Nicht nur für Diktaturen, Autokraten, Oligarchen, multinationale Konzerne etc. scheint der Sport den Charakter einer »Mehrzweckwaffe« zu besitzen. Die Ausbeutung und Fremdbestimmung der Kultur des Sports reichen zurück bis in die Antike, begleiteten den Sport in allen weiteren Jahrhunderten und hatten einen besonderen Höhepunkt während des Nationalsozialismus. Während des »Kalten Krieges« wurden die kulturellen Leistungen von Athletinnen und Athleten von Ost und West gleichermaßen instrumentalisiert und ausgebeutet. Bis in diese Tage hinein wird die Unabhängigkeit und politische Neutralität der Olympischen Spiele immer wieder durch totalitäre Regime infrage gestellt. Es ist bedauernswert, dass immer häufiger auch westliche Demokratien das über Jahrzehnte bewährte Prinzip der subsidiären Beziehung zwischen Staat, Politik und Sport infrage stellen und im Widerspruch zu den bestehenden eigenen gesetzlichen Grundlagen die für Sportorganisationen überlebenswichtigen Prinzipien der politischen Neutralität und der autonomen Entscheidungsfindung nicht respektieren. Eine durch Fremdinteressen geprägte politische Gefährdung unserer Sportkultur wird dabei immer offensichtlicher. Die freiwilligen Vereinigungen des Sports werden dabei vor allem in ihrer wichtigen Vermittlerfunktion zwischen dem Bereich der Privatheit und dem Bereich der staatlichen Sphäre gefährdet.
Gleichzeitig muss erkannt werden, dass dem System des Sports auch aus den Nachbarsystemen Wirtschaft und Massenmedien große Gefahren drohen. Eine in ihrer Reichweite kaum abschätzbare Kommerzialisierung des Sports hat schon seit längerer Zeit zur Folge, dass immer mehr finanzielle Fremd- und Eigeninteressen an die Sportkultur herangetragen werden und sie zunehmend auch von einer weltweit sich ausbreitenden finanziellen Gier geprägt wird. Dies zeigt sich uns vor allem in vielen Bereichen des Hochleistungssports. Die eigentliche Kultur des Sports zeigt sich uns deshalb vorwiegend in den sogenannten »Amateurbereichen des Wettkampfsports«, in informellen Sportgruppen, beim individuellen Sporttreiben.
Der Kultur des Sports droht aber auch durch weniger offensichtliche Formen der Instrumentalisierung eine nicht zu unterschätzende Gefahr. Nicht nur in modernen Gesellschaften wurden und werden der Sportkultur immer mehr gesellschaftspolitische Aufgaben und Funktionen zugewiesen, die für die Kohäsion der jeweiligen Gesellschaft ohne Zweifel von großer Bedeutung sind, bei deren Erfüllung sich der Sport jedoch in der Gefahr befindet, dass er seine eigentliche kulturelle Bedeutung dabei einbüßt. So ist für alle Gesellschaften wünschenswert, dass der Sport einen Erziehungs- und Sozialisationsauftrag erfüllt, dass er mit seinen sportlichen Wettbewerben einen Beitrag zur Unterhaltung der Menschen leistet, dass Athletinnen und Athleten bei erfolgreichen Leistungen ein sozialer Aufstieg eröffnet wird, dass das System des Sports für die Ökonomie einer Gesellschaft einen wichtigen Beitrag erbringt, dass er zur Ertüchtigung von Angehörigen des Militärs beiträgt, dass Menschen durch ihre Sportausübung eine sinnerfüllte Freizeit erleben, dass er Wege zur Emanzipation von Frauen aufzeigt und nicht zuletzt, dass er auch im Sinne einer biologischen Funktion einen wichtigen Beitrag zur Volksgesundheit ermöglicht. Für manche junge Nation kann auch die Funktion des »Nation Building« durch sportliche Höchstleistungen ein bedeutsames Ziel sein. In nahezu allen Staaten dieser Welt wird darüber hinaus der Sport zu Zwecken der nationalen Repräsentation, der Integration und Inklusion gefördert und damit in einer sehr direkten Weise politisch instrumentalisiert. Bemerkenswert ist dabei, dass die Sportorganisationen sich manche dieser Aufgaben selbst zum Auftrag gemacht und damit auch bestimmte Erwartungshaltungen »provoziert« haben. Dies gilt leider auch nicht selten für den erwähnten politischen Missbrauch des Sports durch »Unrechtsstaaten«.
Ein kulturelles System, das derart viele Funktionen für eine Gesellschaft erfüllen soll, befindet sich nicht nur in der Gefahr, dass es in seiner Praxis manche dieser Funktionen nur unzureichend oder auch gar nicht erfüllen kann und es dabei in eine immer größere Abhängigkeit zu jenen gesellschaftlichen Bereichen gerät, aus denen diese Funktionserwartungen an den Sport herangetragen werden. Jede politische Instrumentalisierung bedeutet geradezu zwangsläufig eine Degradierung des kulturellen Wertes, den der moderne Sport für unsere Gesellschaft haben kann.