Pierre de Coubertin, der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) und Gründer der modernen Olympischen Spiele, hatte einen Traum: Er wollte die großen klassischen Sportwettbewerbe mit künstlerischen Disziplinen wie Tanz, Musik und Bildhauerei kombinieren. Bei den Olympischen Spielen 1912 in Stockholm wurde dieser Traum erstmals Realität, wo diese künstlerischen Disziplinen ausgetragen und Medaillen unter den 35 teilnehmenden Künstlerinnen und Künstlern vergeben wurden.

35 Teilnehmende waren noch nicht viel, doch bei den Olympischen Spielen 1924 in Paris wuchs die Zahl bereits auf 200 an, und nun, ein Jahrhundert später, werden es im Rahmen der am 26. Juli wiederum in Paris beginnenden Spiele 2.000 Kulturprojekte sein, die in ganz Frankreich stattfinden und die Olympia-Begeisterung um eine lebhafte kulturelle Dimension bereichern werden. Diese Projekte knüpfen an Pierre de Coubertins Bestreben an, »Muskelkraft und Geist« zu verbinden, und damit auch an die große olympische Tradition: Seit der erstmaligen Austragung der Wettbewerbe im antiken Griechenland bildeten Sport, Bildung und Kultur die drei Säulen der Olympischen Spiele.

Das kulturelle Programm, das seit 1992 offiziell jede Ausgabe der Spiele in den Gastgeberländern begleitet, trägt den Namen »Kulturolympiade«. Es beruht auf den gemeinsamen Werten von Sport und Kultur: einzigartiges Talent und Spitzenleistung; das Streben nach Selbstüberwindung und Perfektion und die Idee, Menschen und ihre gemeinsamen Leidenschaften zusammenzubringen.

Die Kulturolympiade, die die diesjährigen Olympischen Sommerspiele in Paris begleitet, hat im Juni 2022 begonnen. Seitdem wurden und werden noch bis September 2024 2.000 Kunst- und Kulturprojekte in ganz Frankreich ins Leben gerufen, die von französischen öffentlichen Trägern auf nationaler und regionaler Ebene unterstützt werden. Architektur, Comics, urbane Kunst, Tanz, Musik und viele andere Kunstformen stehen mit der Vorbereitung und dem Verlauf der Spiele in Verbindung. So findet hier eine Ausstellung über Mode und Sport – im Palais Galliera – statt, da eine von großen Pariser Kulturinstitutionen veranstaltete Schnitzeljagd über Pierre de Coubertin und dort, die Reise des olympischen Feuers begleitend, Ballett- und andere Tanzaufführungen. In Tahiti, wo die Surfwettkämpfe ausgetragen werden, würdigt das Musée de Tahiti et des Îles die Geschichte der Disziplin im Überseegebiet Französisch-Polynesien. Diese Beispiele sind nur ein kleiner Ausschnitt aus der beeindruckenden Bandbreite an Kunst und Kultur, die Frankreich rund um die Olympischen und Paralympischen Spiele zu bieten hat, und die sich an die Bevölkerung der Austragungsorte richtet sowie an die 15 Millionen Besucher, die im Sommer erwartet werden.

Das französische Kulturerbe wird ebenfalls gewürdigt, durch die Vielzahl an symbolträchtigen Orten, an denen die Spiele ausgetragen werden. Die Schlossgärten von Versailles bieten eine wunderbare Bühne für die Wettkämpfe im Modernen Fünfkampf und im Reitsport. Unter dem Glasdach des Kirchenschiffs des Grand Palais, das 1900 für die Weltausstellung erbaut worden ist, finden die Wettwerbe in den Disziplinen Fechten und Taekwondo statt. Der Eiffelturm thront über den Wettkämpfen im Beachvolleyball und im Blindenfußball auf dem Champ de Mars. Marseille, mit seinem reichen mediterranen Natur- und Kunsterbe, ist der Austragungsort für die Segelsportwettkämpfe. Und schließlich bietet jede Etappe des olympischen Fackellaufs durch die Vielfalt und die Fülle Kontinentalfrankreichs und seiner Überseegebiete Anlass für Momente des Beisammenseins und der geteilten Freude.

Diese Momente der Einheit verkörpern das grundlegende I. Prinzip der Olympischen Charta: Durch die Verbindung des Sports mit Kultur und Bildung strebt der Olympismus danach, »einen Lebensstil zu schaffen, der auf der Freude an Leistung, auf dem erzieherischen Wert des guten Beispiels, der gesellschaftlichen Verantwortlichkeit sowie auf der Achtung universell gültiger fundamentaler moralischer Prinzipien aufbaut«. Diesem Ziel verschreibt sich die französische Kulturolympiade. Und mit diesem Anspruch geht außerdem ganz besonders der Wille einher, für die Werte der Inklusion und Partizipation einzutreten. Denn die meisten der angebotenen Veranstaltungen sind kostenlos und richten sich an die breite Öffentlichkeit. Sie überwinden die Grenzen zwischen dem kunst- und dem sportinteressierten Publikum und bringen es zusammen, tragen zur Demokratisierung der Kultur bei und schaffen Momente der Freundschaft und geteilter Emotionen.

Mehr denn je werden Sport und Kultur in diesem Sommer in Frankreich miteinander verwoben sein und gemeinsam die Werte feiern, die sie vereinen. Diese Werte verbinden auch Frankreich und Deutschland: Unsere beiden Präsidenten, Emmanuel Macron und Frank-Walter Steinmeier, haben am 26. Mai 2024 am Brandenburger Tor gemeinsam den Startschuss für den »Deutsch-Französischen Sportsommer« gegeben. Unsere Länder sind in diesem Jahr mit den Sommerspielen in Frankreich und der Fußball-EM der Männer in Deutschland Gastgeber außergewöhnlicher Sportwettkämpfe, die die Gelegenheit bieten, unsere Länder auf wunderbare Weise durch die Werte des Sports und der Freundschaft im Herzen Europas zu vereinen und eine Botschaft der Völkerverständigung und des gegenseitigen Respekts in einer von Krisen geprägten Zeit in die ganze Welt zu senden.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 7-8/2024.