Es war eine für englische Verhältnisse laue Julinacht, als Kenneth Branagh seine eindringliche Stimme erhob. »Be not afeard«, deklamierte der große Schauspieler vor 80.000 Menschen im Stadion und 900 Millionen an den Fernsehgeräten: »Hab keine Angst.« In diesem Moment, in dem wir in 190 Ländern gleichzeitig seine Stimme hörten, die Shakespeare-Verse aus alter Zeit, war die Brücke zwischen uns fühlbar. Und dann entzündeten sieben junge britische Athletinnen und Athleten 204 kupferne Blütenkelche, die jeweils eine Nation repräsentierten, die einzelnen Flämmchen erhoben sich und formierten sich zu einer olympischen Flamme.

»Be not afeard« – wir verstehen einander, wir teilen ein Feuer. Das ist die Erfahrung, die wir im Sport und in der Kultur immer und immer wieder machen, trotz aller globalen Krisen. Einerseits. Denn dann kam der 24. Februar 2022, und es begann der Angriffskrieg auf die Ukraine. Seitdem wird geschossen, seitdem rollen Panzer, seitdem fallen Bomben. Und seitdem stellen wir vieles infrage.

Wollen wir Anna Netrebko in unseren Opernhäusern auftreten lassen, ihrer Kunst applaudieren, wo sie sich doch so immens schwertut, sich von Putin zu distanzieren? Wie handhaben wir die Teilnahme russischer und belarussischer Athletinnen und Athleten an internationalen Turnieren? Und was war da los beim diesjährigen ESC mit den vielen Buhrufen und Boykottforderungen gegen die junge Sängerin Eden Golan, die ihr Land Israel vertrat? Ist uns die große integrative Kraft des Sports und der Kultur abhandengekommen? Dürfen interkulturelle Programme, der friedensstiftende Gedanke der olympischen und paralympischen Spiele, die Arbeit von Kulturinitiativen als gescheitert gelten? Salopp formuliert: War’s das mit der Völkerverständigung durch Sport und Kultur?

Wie immer lohnt der Blick hinter die Bühne, in die Probenräume, Turnhallen, die kleinen Stadien vor Ort – dorthin also, wo Kultur und Sport eingeübt werden. Das gegenseitige Verständnis, die gegenseitige Wertschätzung, das Gemeinschaftsgefühl, sprich: die Grundbedingung von Völkerverständigung, hier beginnt sie, hier, in den Räumen unseres Alltags, wird sie gelehrt, gelernt, erfahren, praktiziert. Verbindung über alle Distinktionen hinweg entsteht dort, wo Menschen gemeinsam Sport machen, musizieren, Theater spielen. Sie entsteht in den Ausstellungen des örtlichen Kunstvereins ebenso wie sonntagnachmittags in der Turnhalle beim Anfeuern der B-Jugend. Hier machen wir die Erfahrung, dass uns etwas verbindet, das größer ist als unsere biografischen Gegebenheiten. Größer auch als unsere lokalen Befindlichkeiten, unsere familiären Sorgen und unsere wirtschaftlichen Nöte. Wer dieses Gefühl einmal erfahren hat, der erinnert sich, dass es keine Rolle spielte, ob der Teamkollege Muslim ist oder in der Freikirche; wichtig war das, was man im gemeinsamen Volleyballspiel erlebte. Wer in seiner Jugend jeden Dienstagabend am letzten Pult der zweiten Geige saß, der weiß, dass diese Kraft des gemeinsamen Musizierens stärker ist als alle Vorurteile und Ressentiments. Diese Erfahrung ist die Keimzelle von Verständigung und Brückenbau. Und Sport und Kultur schaffen die Begegnungsräume dafür.

Diese Begegnungsräume können groß sein wie die olympischen und paralympischen Spiele, internationale Filmfestivals oder ein Taylor Swift Konzert. Sie entfalten ihre Kraft aber auch im Kleinen. Um die universelle Sprache des Sports, der Musik, des Tanzes, des Films, der Bildenden Künste gemeinsam zu erfahren, braucht es keine Kameras, keine Übertragungsrechte oder Karten für die Premiere. Die verbindende Kraft des Sports und der Kultur wirkt, sobald sie stattfindet. Es braucht lediglich eins: das Machen.

Und dieses Machen findet täglich statt. In jedem Sportangebot vor Ort, jedem der 86.000 Sportvereine mit ihren 8 Millionen Ehrenamtlichen, jeder Musikschule (allein im Verband der Musikschulen sind aktuell über 930 organisiert), jeder Theatergruppe, jedem privat organisierter Lauftreff, in allen Tennisclubs, allen Malkursen. Sie alle sind Mikrobrückenbauer. In Sportvereinen wird tagtäglich integrative Arbeit geleistet. Sie bieten Menschen die Möglichkeit, unabhängig von ihrer Herkunft, Religion oder Weltanschauung zusammenzukommen und gemeinsam Sport zu treiben. Dies ist von unschätzbarem Wert für das Verständnis für- und die Toleranz untereinander. Dasselbe in der Kultur. Museen, Theater und andere kulturelle Einrichtungen bieten Bildungsprogramme an, die Menschen jeden Alters für verschiedene Kulturen und deren Geschichte sensibilisieren. Diese Programme tragen dazu bei, Vorurteile abzubauen und das Bewusstsein für unsere globale Verbundenheit zu stärken. Nicht zu vergessen das gemeinsame Musizieren oder Theater spielen. Wer es liebt, künstlerisch tätig zu sein, umgibt sich mit Menschen mit derselben Leidenschaft. Und diese Menschen müssen nicht zwingend aus derselben demografischen Kohorte stammen. Sie müssen ihr Instrument gut spielen oder den Pinsel gekonnt führen können.

Sport und Kultur erleben und Sport und Kultur machen: Das sind die beiden Säulen, die unser Zusammenleben verbessern, weil sie Nähe erzeugen. Und diese Nähe wird über Landesgrenzen hinweg hergestellt. Viele Sportvereine und kulturelle Einrichtungen pflegen internationale Kontakte und Partnerschaften. Amateur-Sportlerinnen nehmen an grenzüberschreitenden Turnieren, Jugendorchester an Austauschprogrammen teil. Alle diese Initiativen fördern den internationalen Dialog und bauen Freundschaften auch über nationale Grenzen hinweg auf. Und wenn große, internationale Turniere oder Weltmeisterschaften ausgetragen werden, kommen Menschen aus allen Ländern zusammen, um ihre Athletinnen und Athleten anzufeuern – und um sich während und nach dem Wettkampf auszutauschen, zu begegnen. Und noch immer schafft es die Bildende Kunst, Menschen aus aller Welt an einem Ort zu versammeln, 650.000 zum Beispiel kürzlich im Rijksmuseum in Amsterdam für die große Vermeer-Schau.

Zurück zur Weltbühne des Sports. Die olympischen und paralympischen Spiele, die nun in Paris stattfinden, kommen mit vielen Themen im Gepäck, darunter das wahrscheinlich drängendste: Können wir uns in Zeiten wie diesen überhaupt noch verstehen? Wie kommen wir zueinander, wenn Europa, die Wahlen im Juni haben es gezeigt, von der rechten Seite her erstarkt? Wie kommen wir zusammen, wenn das Nationale in den Vordergrund rückt? Wie können wir Pierre de Coubertins Vision von Olympia als dem »Treffen der Jugend der Welt« lebendig halten, wenn er durch so viele politische Realitäten überschattet wird? Wir können es, indem wir den Gesprächsraum, den Sport und Kultur schaffen, offenhalten und das, was uns verbindet, stärken.

»We all have the same goal. We all want to win, but it’s really great and awesome when a competitor comes up and hugs you at the end of a race.« (Wir haben alle dasselbe Ziel. Wir wollen alle gewinnen, aber es ist großartig, wenn ein Konkurrent am Ende eines Rennens auf dich zukommt und dich umarmt.) Das ist der Kern des Sports, und niemand hätte ihn schöner formulieren können als Jessica Long, die bei den Paralympics London 2012 fünf Goldmedaillen im Schwimmen gewann.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 7-8/2024.