Immer öfter sehe ich mich genötigt, in kulturpolitischen Debatten Theodor W. Adornos Credo aus dem Jahr 1951 auszurufen: »Aufgabe von Kunst heute ist es, Chaos in die Ordnung zu bringen.« Die allumfassende Instrumentalisierung und Gleichschaltung der Künste im Nationalsozialismus auf uneingeschränkt affirmative »Systemrelevanz« war bei den meisten Deutschen kurz nach dem zweiten verlorenen Weltkrieg noch stark verinnerlicht. »Freiheitliche und liberale Demokratie« war nicht mehr als ein rudimentäres Projekt eines experimentellen Gesellschaft-Narrativs. Gerade mal im Konjunktiv wurde von Wenigen unser heutiges Verständnis einer offenen Gesellschaft in einem vereinten Europa imaginiert.  

Es macht Sinn, sich zu vergegenwärtigen, wie klug und weitsichtig die »Väter und Mütter des Grundgesetzes« in genau diesem Kontext und Klima ausgerechnet die »Kunstfreiheit« als hohes Gut der neuen Gesellschaft im Grundgesetz verankert haben: als unbedingten Schutz der Kunst vor staatlicher Bevormundung, Lenkung und Zensur und zugleich als Verpflichtung des Staates, diese Freiheit aktiv zu befördern und zu schützen. 

Nach Jahren systematischer ideologischer Vereinnahmungsversuche der Kultur seitens der ausgrenzenden AfD und anderer extremistischer Hetzer haben sich die Toleranzgrenzen heute auch auf kommunaler Ebene deutlich verschoben. Das Gift wirkt! Mit viel »Ja, aber« werden hart erarbeitete Freiheiten relativiert, werden vom Kulturbereich wieder Vorbildcharakter, staatsnahe Haltungen und untadeliges Sozialverhalten von Kunstakteuren eingefordert und Möglichkeitsräume der Kunst verengt. Achtsamkeit schlägt immer öfter in Angst um. Selbstzensur in Kultureinrichtungen ist längst Alltag. Statt die wichtigen Freiheitsräume der Kunst auch für Verstörendes und Unbequemes vehement zu verteidigen, werden Künstlerinnen und Künstler und ihre Werke immer ängstlicher auf etwaige Irritationspotenziale durchleuchtet und im Zweifel in Quarantäne geschickt. Verkehrte Welt. Allumfassende Triggerwarnungen sind nur das satirische Sinnbild dieser fragwürdigen Verschiebungen.  

Die Angst, angreifbar zu werden in einer immer weniger differenzierenden und immer weniger zum Diskurs fähigen polarisierten Gesellschaft, zeugt von wenig Vertrauen in das, was unsere Kunst und unsere offene Gesellschaft aushalten können müsste: Perspektivenvielfalt und Kontroverse. Demokratie lebt von Respekt, Streit und Diskurs. Ich wage zu bezweifeln, dass die aktuellen Verirrungen mit ihren zunehmenden Haltungs-Verordnungen den Geist unseres Grundgesetzes noch überzeugend spiegeln. Aber wo bleibt der Aufschrei!  

Der Grad der Kunst-, Meinungs- und Pressefreiheit ist der Lackmustest der Verfasstheit unserer Demokratie. Deren schleichende Vergiftung zu stoppen, wird leider eine zentrale auch kulturpolitische Herausforderung bleiben. 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 5/2024.