Die »Kultur« in ihren unterschiedlichen Ausdrucksformen steht in enger Wechselwirkung mit den Krisen, Umbrüchen und Unsicherheiten, die die Menschen bewusst oder unbewusst bewegen. Gleichzeitig wird die Gesellschaft immer heterogener, die Lebensformen diverser, die Fliehkräfte größer und der Ton unversöhnlicher. In diesem Kontext ist es für mich die größte kulturpolitische Herausforderung, die existenzielle Bedeutung der Kultur für möglichst breite Teile der Bürgerinnen und Bürger sicht- und wahrnehmbar zu machen: als Ort der Identitätsbildung, der Kreativität, der Auseinandersetzung, der Grenzüberwindung, der Unterhaltung, der Irritation, des Gesprächs oder schlicht als »Lebensmittel«. Die Kultur hat insofern einen Wert an sich und darf sich nicht in erster Linie »in Funktion von« rechtfertigen müssen. 

In unserer kommunalen kulturpolitischen Debatte geht es derzeit darum, das vorhandene kulturelle Leitprofil mit aktuellen Themen und Herausforderungen zu kreuzen; dabei rücken einzelne Aspekte besonders in den Vordergrund.  

Aus der Perspektive der Bürgerinnen und Bürger ist es irrelevant, wie die institutionelle Verfasstheit eines kulturellen Anbieters ist. Die mitunter noch sehr ausgeprägte Differenzierung in städtische und freie Kulturakteure muss durch Dialog- und Kooperationsformate abgelöst werden, in der die kohärente Gestaltung der Kulturlandschaft insgesamt in den Fokus genommen wird. 

Wenn die Kultur ihren Charakter als öffentliches Gut schärfen und ausbauen will, muss sie Barrieren abbauen. Beginnend mit den Kitas muss die kulturelle Bildungskette systematischer etabliert werden, damit die Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen unabhängig von ihrer Herkunft spüren können, dass die Kultur für ihren persönlichen Lebensweg eine Bedeutung haben kann, sei es als kultureller Akteur, sei es als Nutzer von Kulturangeboten.  

Die kulturelle Bildung ist ein wesentliches Element des »Audience Development« (AD), der Stabilisierung und Weiterentwicklung des Publikumszuspruchs von kulturellen Angeboten. Das AD ist nicht nur mit Blick auf die Teilhabe in demokratischen Gemeinwesen geboten, sondern auch ein relevantes Argument bei den sich verschärfenden Konflikten um die Verteilung öffentlicher Mittel. Die mit dem AD verbundenen Fragen sind komplex: Wer könnte noch potenzieller Nutzer von Kulturangeboten sein? Wie kann man diese erreichen? Wie lässt sich Kultur breitenwirksam vermitteln ohne Qualitätsansprüche aufzugeben? Wie lässt sich Diversität bei Nutzern und Akteuren von Kultur auf Augenhöhe abbilden?  

Die Kulturlandschaft lässt sich nicht ablösen – und sie sollte es auch nicht tun – von den gravierenden Umbrüchen in den Innenstädten. Es ist jedoch nicht ihre Aufgabe, unreflektiert das Vakuum zu füllen, das der Rückzug des Einzelhandels hinterlässt, sondern sie muss sich vielmehr selbstbewusst und mit eigenen Vorstellungen in die entsprechenden konzeptionellen Prozesse einbringen. In Aachen bietet die Debatte um die Schaffung eines »Dritten Ortes« in einer ehemaligen Kaufhausimmobilie hervorragende Anknüpfungspunkte für neue kulturpolitische Impulse. 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 5/2024.