»What drives us« – was uns antreibt – steht in großen Buchstaben an der LED-Wand auf der Bühne beim Führungskräftemeeting Anfang Mai 2019 in Gütersloh. Bertelsmann will sich, so Thomas Rabe, Vorstandsvorsitzender des Medienkonzerns, 184 Jahre nach seiner Gründung neu erfinden. Mit den neuen Glaubenssätzen wollte Rabe eine Antwort finden auf die Zwänge, die die amerikanischen Tech-Konzerne Google, Facebook, Amazon und Netflix auf ein deutsches Familienunternehmen wie Bertelsmann ausüben. Amazon hat das Buchgeschäft revolutioniert, die Rolle der stationären Händler angegriffen und damit auch das Selbstverständnis der Buchverlage ins Wanken gebracht. Penguin Random House, mit einem Umsatz von 3,4 Milliarden Euro eine wichtige Bertelsmann-Tochter, hat es durch den Gatekeeper Amazon immer schwerer, einen direkten Weg zu den Lesern zu finden.

Netflix stellt das klassische Fernsehen infrage. Zuschauer gewöhnten sich daran, dass sie selbst über Zeitpunkt und Inhalt ihrer Mediennutzung entscheiden – und nicht ein TV-Sender wie die umsatzstärkste Bertelsmann-Tochter RTL.

Und auch das Musikgeschäft von Bertelsmann war in die Fänge der Tech-Konzerne geraten: Plattformen wie die Google-Tochter YouTube können Konditionen diktieren und Musikunternehmen, wie die Bertelsmann-Tochter BMG, stehen am Rand. Bei Bertelsmann erzielten die Digitalbereiche 2019 erst 34 Prozent des gesamten Umsatzes, bei Gruner + Jahr sogar nur 27 Prozent. Axel-Springer erreichte zum gleichen Zeitpunkt 70 Prozent.

Und auch ProSiebenSat.1 hatte damals hochfliegende Pläne: »Wir sind schon längst kein reines TV-Unternehmen mehr, sondern entwickeln uns konsequent zu einem plattformunabhängigen Entertainment-Haus«, sagte Wolfgang Link, Co-CEO Entertainment der ProSiebenSat.1 Media SE. »Mit einer neuen Struktur sei das Unternehmen ideal aufgestellt, um das Entertainment-Haus im deutschsprachigen Raum zu werden«, fasst Link die Vision zusammen. Im Jahr 2019 stieg das Konzernergebnis um 65 Prozent auf 412 Millionen Euro. Der Umsatz des Medienkonzerns war um drei Prozent auf 4,135 Milliarden Euro gewachsen. Dabei erreichte das Nicht-TV-Werbegeschäfts 52 Prozent des Konzernumsatzes. 2019 hielt die Mediaset-Gruppe von Berlusconi erst 15,1 Prozent des Aktienkapitals des deutschen Medienunternehmens.

Fusion von RTL und Gruner + Jahr ist schwieriger als gedacht

Vier Jahre später sind die beiden größten privaten deutschen Medienkonzerne Bertelsmann und ProSiebenSat.1 von ihren, noch vor der Coronapandemie proklamierten Zielen, weit entfernt.

Im August 2021 verkündete Bertelsmann die Fusion von RTL und Gruner + Jahr. Nach der neuen Unternehmensstrategie sollten künftig die Inhalte entscheidend sein und nicht der Distributionsweg. Dafür sollte RTL auf allen relevanten Plattformen mit exklusiven Angeboten präsent sein. Seit Januar 2022 existiert der traditionsreiche Hamburger Verlag nicht mehr und bekannte Magazin-Titel wie »Stern«, »Brigitte« oder »Geo« gehören zu RTL. Deutschland hat einen neuen »nationalen Medien-Champion« – so sah es jedenfalls Thomas Rabe. Die Übernahme solle »unsere Mediengeschäfte auf dem deutschen Markt im Wettbewerb mit den globalen Tech-Plattformen« stärken, so Rabe im Intranet von Bertelsmann.

Seit Ende August 2022 ist das grün-weiße Gruner+Jahr-Logo vom Verlagshaus verschwunden. Stattdessen weht am Hamburger Baumwall jetzt die rot-blau-grüne RTL-Fahne. Auch im Netz existiert die Marke nicht mehr. Die Corporate-Seite von G+J wurde abgeschaltet und leitet nun auf RTL Deutschland um. Die E-Mail-Adressen mit der Endung @guj.de haben ausgedient. Die Verlagsangehörigen sind per Mail nur noch über @rtl.de erreichbar. Zu Beginn des vergangenen Jahres hatten viele Verlagsbeschäftigte noch ein Zusammengehen auf Augenhöhe erhofft. Im Lichte der jüngsten Ereignisse erscheinen Rabes Manöver weniger als friedliche Fusion, sondern mehr als »feindliche Übernahme« – wenn auch innerhalb des Konzerns.

Unmittelbar nach der Fusionsankündigung hat das Medienhaus seine Umsatzziele aufgestockt. Der Bertelsmann-CEO verkündete im September 2021 auf einem Management Meeting euphorisch, in vier Jahren 24 Milliarden Euro Umsatz, 4 Milliarden Euro EBITDA und 2 Milliarden Euro Konzernergebnis erreichen zu wollen. Bis 2025 sollen 5 bis 7 Milliarden Euro investiert werden, um Bertelsmann auf das höhere Umsatz- und Ergebnisniveau zu führen. Thomas Rabe: »Unsere fünf strategischen Wachstumsprioritäten – Nationale Media-Champions, Globale Inhalte, Globale Dienstleistungen, Online-Bildung und Beteiligungen – zeigen Wirkung und lösen einen Wachstumsschub für Bertelsmann aus. Wir gehen davon aus, dass wir für das Gesamtjahr 2022 beim Umsatz erstmals die Marke von 20 Milliarden Euro überschreiten werden.« Bertelsmann sei in Krisenzeiten ein Fels in der Brandung. Eine solche Zielmarke war allerdings schon oft zu hören, wurde aber bislang aber nie eingelöst. 2021 lag der Konzernumsatz bei 18,7 Milliarden Euro, davon erbrachte RTL 6,64 Milliarden.

Dämpfer für Rabes Visionen

Auch Bertelsmann machen die Folgen der Inflation, der stagnierenden Wirtschaft und der Konsumzurückhaltung der Bevölkerung zu schaffen. Bei den TV-Sendern zeigen sich die Krisenfolgen durch rückläufige Werbebuchungen und im Verlagsgeschäft sind Papierpreise und Personalkosten gestiegen. Auch die Zuschauerzahlen der TV-Sender sind nicht berauschend. Mit RTL ist 2022 nun auch der letzte Sender unter die Marke von 10 Prozent Marktanteil bei der werbeattraktiven Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen gefallen. Dennoch meldete die RTL Group für das dritte Quartal einen Anstieg des Gesamtumsatzes um 18,9 Prozent auf 1,73 Milliarden Euro. Die rückläufigen TV-Werbeeinnahmen wurden unter anderem durch wachsende Umsätze aus dem Streaming-Geschäft ausgeglichen. Trotzdem blieb es im Vergleich zu den Werbeumsätzen weiterhin nur ein kleiner Zuschuss. Der gesamte Werbeumsatz der RTL Group betrug im Zeitraum Januar bis September 2022 2,517 Milliarden Euro, wovon 1,972 Milliarden auf den TV-Bereich entfielen. Das TV-Werbegeschäft entwickelte sich auch bei RTL im dritten Quartal nicht gut und ging hier von 686 auf 614 Millionen Euro zurück.

Im August hatte Thomas Rabe, aufgrund zunehmender Probleme, das Steuer bei der RTL-Group selbst übernommen. Stephan Schäfer, bisher Co-CEO von RTL Deutschland, davor bei Gruner + Jahr, schied aus der Geschäftsführung aus. Dabei ließ der oberste Bertelsmann-Lenker keinen Zweifel daran, dass angesichts des wirtschaftlichen und politischen Umfelds auch für RTL härtere Zeiten anbrechen. »Das ist eine so außergewöhnliche Situation, da ist aktives Handeln nötig«, sagte Rabe der »FAZ«. »Aktives Steuern bedeutet, dass man neben den Erlösen auch die Kosten im Blick hat, denn es geht um die Fähigkeit zu investieren.« Da die RTL Group durch das Streaming-Geschäft Anlaufverluste von 250 Millionen Euro schultern müsse, wovon der Großteil auf RTL+ entfalle, müssten Ressourcen neu verteilt und Strukturen hinterfragt werden, so Rabe.

Viele Zeitschriften des Hamburger Traditionsverlags stehen zum Verkauf

Dabei war als strategisches Hauptziel der Fusion von G+J mit RTL Deutschland proklamiert worden: Kostenersparnis bei gleichzeitigem Aufbau eines Streaming-Angebots unter der Marke RTL+, als lokale Konkurrenz zu globalen Anbietern wie Netflix oder Disney. Die Verschmelzung zu einem »nationalen Champion«, so Rabe Anfang 2022, werde Synergien von rund 100 Millionen Euro pro Jahr schaffen – davon drei Viertel durch zusätzliches Wachstum, etwa ein Viertel durch Einsparungen. Letzteres auch bei den Personalkosten.

»Mehr sehen, mehr hören, mehr lesen« – unter diesem Motto stellte RTL seine Zukunftsvision vor. Herzstück des künftigen Angebots sollte RTL+ sein, das um Hörbücher, Podcasts und den Zugang zu digitalen Zeitschrifteninhalten erweitert werden sollte – weltweit einmalig. Doch die neuartige Plattform war anscheinend schwierig umzusetzen. So rückte Bertelsmann von der gerade erst verkündeten One-App-Strategie im Herbst wieder ab.

Im September 2022 erlitten Rabes Visionen einen neuen Dämpfer. Die französischen Kartellbehörden haben die seit einem Jahr vorangetriebene »Mega-Fusion« der TV-Sendergruppen M6 und TF1 abgelehnt. Die Verschmelzung von M6 mit dem französischen Konkurrenten TF1 war Teil der Strategie, »nationale Champions zu schaffen«. In Frankreich wäre so eine Sendergruppe mit einem Zuschauermarktanteil von mehr als 40 Prozent sowie 75 Prozent auf dem TV-Werbemarkt entstanden.

Der nächste schwere Schlag für Bertelsmann kam im November aus den USA. Ein US-Gericht hat den milliardenschweren Kauf des US-Verlags Simon und Schuster durch die Bertelsmann-Tochter Penguin Random House unterbunden.

Anfang Oktober musste auch Ex-Verlagsgeschäftsführer Frank Stahmer, seit 2019 Chef des G+J-Lizenzbereichs, das Unternehmen verlassen – als letzter Vertreter der alten G+J-Mannschaft. Nach dem Zusammengehen des TV-Senders RTL mit Gruner + Jahr stehen nun viele Zeitschriften des Hamburger Traditionsverlags zum Verkauf. Es gebe Verhandlungen mit interessierten Verlagen zum Kauf von Magazinen wie »Brigitte«, »Gala« und »Schöner Wohnen«, berichtete die »Süddeutsche Zeitung«. Die Deals könnten schon im ersten Quartal 2023 über die Bühne gehen. Die Gebote lägen jeweils zwischen 50 und 100 Millionen Euro.

Berlusconi schwebt wie ein Schreckgespenst über Unterföhring

Ein Wirtschaftseinbruch oder eine Stagnation, die viele Experten für 2023 erwarten, könnte besonders die Medienindustrie treffen. Damit würden die Werbebuchungen bei Fernsehsendern zurückgehen, was deutliche Auswirkungen auf die Gewinne hätte. Der Aktienkurs von ProSiebenSat.1 ist bereits am Boden und hat seit Jahresbeginn 2022 knapp 50 Prozent an Wert verloren. Zum anderen ist die Unabhängigkeit von ProSiebenSat.1 in Gefahr. Während die RTL Group weiteres Wachstum vorweisen kann, musste ProSiebenSat.1 im Herbst einen deutlichen Umsatz- und Gewinnrückgang verkünden. Das wirtschaftliche Umfeld sei eingetrübt, teilte der Medienkonzern mit. Das Unternehmen erwarte im Gesamtjahr 2023 einem Umsatz von rund 4,15 Milliarden. Die Prognose hatte bislang auf 4,375 Milliarden Euro gelautet.

Gleichzeitig geht ProSiebenSat.1 davon aus, dass die Werbeerlöse des Konzerns in der DACH-Region – Deutschland, Österreich und Schweiz – im vierten Quartal um voraussichtlich rund 130 Millionen Euro bzw. rund 17 Prozent und auf Gesamtjahressicht um rund 160 Millionen Euro bzw. rund sieben Prozent unter dem Vorjahr liegen werden. Die negativen wirtschaftlichen Aussichten für das Unternehmen aus Unterföhring sind anscheinend für Berlusconis Konzerns MFE ein Ansporn, endlich den deutschen Medienkonzern zu übernehmen. Diese Spekulationen wurden im Oktober durch den Ersatz des Vorstandsvorsitzenden Rainer Beaujean durch Bert Habets, ehemaliger CEO der RTL Group, befeuert. Habets galt als strikter Gegner eine Übernahme durch MFE.

Der Name Berlusconi schwebt wie ein Schreckgespenst über Unterföhring. Noch immer ist nicht klar, was die Medienholding Media for Europe mit ProSiebenSat.1 plant. Wie ernst es die Italiener jedoch mit einer Übernahme meinen, zeigte die bereits erfolgte Anmeldung einer »faktisch alleinigen Kontrolle« über ProSiebenSat.1 bei der österreichischen Bundeswettbewerbsbehörde. Ende Dezember hat MFE auch bei der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien (BLM) angezeigt, dass der Konzern »nunmehr plane«, die derzeitige Beteiligung an der ProSiebenSat.1 Media SE durch Transaktionen auf bis zu 29,9 Prozent des Grundkapitals und der Stimmrechte zu erhöhen. Zuvor hatte sich der Bayerische Ministerpräsident Markus Söder gegen zu viel Einfluss des Berlusconi-Konzerns bei ProSiebenSat.1 ausgesprochen. Man würde ungern nur eine »Abspielstation aus Italien« sein, sagte er. Bereits im vergangenen Frühjahr hatte der bayerische Landtag eine Verschärfung des Mediengesetzes des Freistaats beschlossen. Die Novelle ermöglicht es der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien (BLM), Gesellschaftern eines Privatsenders eine Erhöhung ihrer Anteile über 25 Prozent zu untersagen, falls aus Sicht der Medienhüter damit eine Gefährdung der Informationsvielfalt einhergehe. Damit will der bayerische Gesetzgeber MFE ausbremsen. Ob das gelingt, ist allerdings fraglich. Auf der anderen Seite ist auch Konkurrent RTL weiterhin an einem Zusammengehen mit Pro Sieben Sat.1 interessiert. Allerdings könnte das am Bundeskartellamt scheitern.

Das Bayerische Medienhaus hatte sich in den vergangenen Monaten bemüht, durch Verkäufe und Umstrukturierungen die wirtschaftliche Lage zu verbessern. So hat der Konzern seine Produktionsfirmen Red Arrow Studios für knapp 200 Millionen Dollar verkauft. Zudem haben die Münchner die ausstehenden 50 Prozent der Anteile am Streaming-Portal »Joyn« von Warner Bros. Discovery übernommen, um so die unzureichenden Umsätze in diesem Bereich aufbessern zu können.

Den großen deutschen Medienunternehmen wird es weiter schwerfallen, den globalen Tech-Konzernen auf Augenhöhe zu begegnen, dafür haben sie ihre Aufholjagd viel zu spät und inkonsequent gestartet. Die aktuellen Krisen haben diesen Prozess zusätzlich belastet und den Vorsprung von Netflix, Amazon und Co., trotz jüngster wirtschaftlicher Schwierigkeiten, wachsen lassen. Die bisherigen Erfahrungen von Bertelsmann und ProSiebenSat.1 zeigen, nur ein europäisches Projekt könnte den globalen Plattformen Paroli bieten. Doch auch dafür ist es wahrscheinlich schon zu spät.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2023.