»Kunst ist frei. Kunst dient niemandem.« – Dieses deutliche Bekenntnis leitet das Kulturkapitel im Grundsatzprogramm ein, das sich Bündnis 90/Die Grünen im Jahr 2020 gegeben haben. Diese Sätze mögen auf den ersten Blick irritieren, wo doch das Bekenntnis zur Relevanz von Kultur spätestens seit der Coronapandemie zu Recht und erfreulicherweise zu einer Art parteiübergreifendem Konsens geworden ist. Doch da, wo auf den ersten Blick ein Widerspruch aufscheint, wird bei näherer Betrachtung ein produktives Spannungsfeld eröffnet: Denn gerade, wenn Kunst frei ist und niemandem dient, kann sie allen nutzen.
Grüne Kulturpolitik nimmt es sich zur Aufgabe, dieses Spannungsfeld zu gestalten. Sie arbeitet dafür, dass sich Kunst frei entfalten kann, dass sie allen, Produzentinnen und Produzenten wie Konsumentinnen und Konsumenten, offensteht und möglichst vielen zugutekommt.
Kultur ist ein unverzichtbarer Teil der Demokratie, denn in ihr finden Austausch und Zusammenleben auf verschiedenste Weise statt: vom gebannten Hören eines Symphoniekonzerts bis zum ausgelassenen Feiern elektronischer Musik, von der stillen Lektüre eines Romans bis zum Poetry-Slam, von der Betrachtung der großen Meister bis zum Kinobesuch mit Freunden. Gemeinsam ist es all diesen Kulturformen, dass sie immer neue Formen des Sehens, Hörens, Denkens und Fühlens ausprobieren. Sie stiften Freude und Genuss, Austausch und Erkenntnis, sie stellen sich und uns immer wieder infrage. Sie bereichern uns um Einsichten und Erlebnisse, sie stoßen Entwicklungen und Innovationen an. Demokratie kann hier verstanden werden in dem umfassenden Sinne, wie sie die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten mit der Wendung »Pursuit of Happiness«, »Streben nach Glück« als menschlichem Grundrecht meint.
Gerade deshalb ist die freie Kultur der erklärte Feind von Autokratinnen und Autokraten: Putins Krieg gegen die Ukraine ist nicht zuletzt ein Krieg gegen ein Land, das sich durch Kultur ausdrückt – und damit auch ein Krieg gegen den freien Ausdruck von Gefühlen und Gedanken, für den die Kunst steht. Und auch im Iran befinden sich z. B. die Filmemacherinnen und Musiker, die es über Jahre geschafft haben, der Menschlichkeit im Angesicht des islamistischen Regimes Ausdruck zu verleihen, im Visier der gewaltsamen Unterdrückung der mutigen Freiheitsbewegung. Literatur und Film schaffen es auch, uns die Freiheitskämpfe in diesen Ländern auf eine Weise nahezubringen, wie es ein Zeitungsartikel oder ein Nachrichtenbeitrag nicht schaffen könnten.
Das gemahnt uns einmal mehr, die Kulturpolitik als wichtiges Handlungsfeld für eine lebendige, wandlungsfähige und vielfältige Demokratie ernst zu nehmen. Kulturpolitik soll die freie Kunst ermöglichen, ein Feld gestalten, in dem die vielen Facetten von Kunst – auch im Dialog mit anderen Feldern wie z. B. der Wissenschaft – sicht- und erlebbar werden. Aktive Kulturpolitik schützt und ermöglicht Freiheit. Dazu gehört es nicht zuletzt auch, Spielarten von Kunst und Kultur zu unterstützen, die nach rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten nicht bestehen könnten, Räume zu schaffen, die nicht kommerziell funktionieren.
Aber Kulturpolitik beschränkt sich nicht auf eine reine Förderpolitik. Eine lebendige Kultur besteht aus der gegenseitigen Befruchtung kommerzieller und nicht kommerzieller Entstehungslogiken. Kultur ist auch ein Wirtschaftsfaktor – in sich selbst, als Impulsgeberin für Innovationen in allen gesellschaftlichen Bereichen und als Teil einer Strukturpolitik für attraktive Städte und ländliche Räume. Die berüchtigte deutsche Trennung in U und E, Hoch- und Populärkultur jedenfalls verströmt nur mehr noch den faden Duft von Aktendeckeln und kann nicht mehr Leitidee einer Kulturpolitik für eine vielfältige Gesellschaft sein.
Aus diesem ganzheitlichen Blick auf Kultur erwächst die Aufgabe, Teilhabe zu gestalten. Dem Staat obliegt es, Zugänge zu ermöglichen und aktiv zu unterstützen, die es allen Mitgliedern unserer vielfältigen Gesellschaft erlauben, teilzuhaben – kulturelle Institutionen aber gleichzeitig so zu gestalten, dass sie die Vielfalt unseres Landes auch in ihren Angeboten widerspiegeln. Dafür müssen wir mitunter neue Wege gehen. Ein hervorragendes Beispiel dafür ist der von Claudia Roth gemeinsam mit Finanzminister Christian Lindner eingeführte Kulturpass für 18-Jährige, mit dem zunächst im Jahr 2023 allen Jugendlichen eines Jahrgangs ein Guthaben im Wert von 200 Euro für Kulturausgaben zu Verfügung gestellt wird. Damit können sie ein breites Spektrum kultureller Angebote nutzen – es wird zugleich ein Anreiz zum Entdecken gegeben und Kulturinstitutionen und -unternehmen werden mit einer großen potenziellen Nachfrage konfrontiert, die sie mit attraktiven Angeboten für sich gewinnen können.
Dies ist ein klares Signal für den nachhaltigen Neuanfang nach der Coronakrise. Sie hatte einerseits deutlich gemacht, wie wichtig Kultur ist, aber auch wie verletzlich. Unter der Führung der Grünen boten Baden-Württemberg und Hessen einige der umfangreichsten Hilfsprogramme für die Kulturszene an. In Baden-Württemberg bekamen Soloselbstständige – darunter sehr viele Künstlerinnen und Künstler – monatliche Zahlungen zur Kompensation von Verdienstausfällen. Hessen sorgte mit mehreren Stipendienprogrammen und einer umfangreichen Initiative für Freiluftveranstaltungen für Unterstützung und alternative Auftrittsmöglichkeiten. Die Verletzlichkeit von Kultur zeigt sich angesichts der steigenden Energiekosten infolge des Angriffskriegs Russlands erneut. Hier konnte die Grüne Kulturstaatsministerin Claudia Roth mit einem milliardenschweren Härtefallfonds ein passendes Instrument anbieten.
Nun geht es darum, mit politischen Impulsen die Weichen für die Zeit nach der Krise zu stellen. Ein zentrales Element dabei ist die Übertragung der Vielfalt der Kultur in die tatsächliche Förderpolitik. Mit neuen Programmen und Preisen für Festivals, Plattenläden und Clubkultur erkennen wir an, dass die verbindende Kraft der Kultur nicht nur in den hergebrachten Formen liegt und wir neue Impulse und Zugänge stärken müssen.
Auch das Kino als Medium und Ort mit einem breiten Spektrum verschiedenster Ausdrucksformen und einer hohen Attraktivität für alle Teile der Gesellschaft braucht eine strukturelle Erneuerung. Das Ziel ist es, mutigere, vielfältigere Filme zu ermöglichen, indem Förderwege vereinfacht und beschleunigt werden. Dabei setzen wir auf die dezentrale Struktur kleiner und mittelständischer Unternehmen, die dafür sorgt, dass die Entscheidung darüber, wie Bewegtbild produziert wird, nicht in der Hand weniger Großkonzerne konzentriert wird – auch hier geht es darum, durch die Strukturen von Herstellung und Rezeption demokratische Vielfalt zu erhalten und zu stärken.
Eine lebendige und vielfältige Kultur ist nur dann möglich, wenn der Zugang zu Bühnen und Leinwänden, Intendanzen und Museumsleitungen allen offensteht und nicht von der materiellen Herkunft abhängig ist. Wichtig dafür ist eine Veränderung in den Arbeitsbedingungen in Kultureinrichtungen, aber auch die Einführung fairer Mindestgagen und -honorare. Gemeinsam mit den Ländern und Verbänden arbeiten wir hier für verbindliche Standards. Hessens Grüne Kulturministerin Angela Dorn hatte mit der Anhebung der Mindestgagen an den Bühnen des Landes bereits ein wichtiges Signal in diese Richtung gesetzt.
Lebendige Kultur braucht offene Räume. Das sind Galerien, Museen oder Bibliotheken, aber auch die sogenannten Dritten Orte, Treffpunkte von Menschen, die teils näher oder weniger nah an der Kultur sind, aber Freiräume ermöglichen. In Baden-Württemberg haben z. B. die Grünen-Ministerinnen Theresia Bauer und Petra Olschowski mit »Freiräume« ein Programm zur Umgestaltung von Leerstand in ländlichen Räumen geschaffen. Das ist nur ein Beispiel von vielen, wie Kultur zur Steigerung der Attraktivität ländlicher Räume und zugleich für ein gutes Zusammenleben eingesetzt werden kann.
Teil der staatlichen Verantwortung für die kulturelle Infrastruktur ist die ökologische Nachhaltigkeit. Nicht nur herrscht im Kulturbetrieb eine große Sensibilität für ökologische Fragen, es geht auch schlicht um die Existenzsicherung von Einrichtungen in Zeiten steigender Energiepreise und der ökologischen Transformation. Mit dem Green Culture Desk wird die Grüne Kulturstaatsministerin Kultureinrichtungen ein Angebot für Beratung, Vernetzung und Förderung ökologischer Maßnahmen machen.
Auch die Feinde von Demokratie, Vielfalt und Offenheit führen das Wort der Kultur im Munde. Im Rückgriff auf längst überholte Vorstellungen des Nationalen reden sie von einer Kultur, die weniger die Kunst als eine Form nationaler Propaganda meint. Auf der Strecke bleibt dabei das große Glück, das entsteht, wenn durch Kunst Brücken geschlagen werden können. Eine Voraussetzung dafür ist es aber unter anderem, die Wunden zu heilen, die durch den Raub von Kunst in der Kolonialzeit entstanden sind. Die Rückgabe der ersten Benin-Bronzen durch Claudia Roth und Annalena Baerbock war ein wichtiges Zeichen, dass Deutschland endlich beginnt, sich dieser Verantwortung zu stellen. Es wird ergänzt durch eine aktive auswärtige Kulturpolitik und großzügige Programme für die Aufnahme bedrohter und verfolgter Künstlerinnen und Künstler, etwa aus der Ukraine und Belarus, durch den Bund und die Länder.
Auf dieser Grundlage können wir eine Kulturpolitik gestalten, die zusammenführt statt spaltet, in Deutschland, Europa und weit darüber hinaus: für Demokratie und das Streben nach Glück.