Internationale Musikstadt, Heimat der (Frühlings-)Buchmesse, Lieblingsort für Nachtschwärmer, Lonely Planets Nummer-1-Reiseziel in Deutschland – all das und viel mehr ist Leipzig. Doch wie kann eine Kulturpolitik aussehen, die dieser Vielfalt Rechnung trägt? Darüber spricht Theresa Brüheim mit Skadi Jennicke, der Beigeordneten für Kultur der Stadt Leipzig.

Theresa Brüheim: Was macht die Kulturstadt Leipzig aus? Welche kulturpolitischen Themen stehen auf der Agenda für dieses Jahr?

Skadi Jennicke: Leipzig versteht sich als Kulturstadt – aus der Tradition heraus. Vor über 800 Jahren wurde der Thomanerchor gegründet; zugleich entstand in dieser Zeit die Leipziger Messe. Über Jahrhunderte hinweg verzahnten sich Kultur- und Handelstradition auf besondere Weise. Das wird besonders in der Musikkultur deutlich. In Leipzig stifteten engagierte Bürger das heute weltbekannte Gewandhausorchester, es entstanden bedeutende Musikverlage wie Breitkopf & Härtel, Musikaliendruckereien expandierten, der Instrumentenbau florierte, die Musikkritik wurde in Leipzig begründet. Bis vor dem Ersten Weltkrieg wurden 90 Prozent des weltweiten Notenbedarfs in Leipzig hergestellt. Viele Unternehmen sorgten dafür, dass Leipzig als »Welthandelsplatz« der Musik galt. Von diesen besonderen Bedingungen profitierten bedeutende Komponisten, die im 19. Jahrhundert in Leipzig wirkten: Felix Mendelssohn Bartholdy, Robert Schumann, Richard Wagner, um nur einige zu nennen.

Die Bedeutung von Kultur und deren enge Verzahnung mit der Stadtgesellschaft wird aber auch in anderen Epochen deutlich. Heute (14. März, Anm. d. Red.) eröffnet die Ausstellung »Leseland DDR« im Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig, die zeigt, dass insbesondere zu DDR-Zeiten der Kultur eine zentrale Rolle zukam. Denn sie konnte sich einer Sprache bedienen, die den offiziellen Duktus klug umschiffte. Das Wesentliche der Gesellschaft wurde damals in Kunst und Kultur verhandelt.

Diese beiden Aspekte – die Verbindung zum Unternehmertum und die besondere gesellschaftliche Bedeutung von Kultur – leben in Leipzig auf eine spürbare Weise fort. Heute ist Leipzig geprägt von einer unbefangenen Gründeratmosphäre. Hier gibt es die Möglichkeit, mit Ideen und Innovation etwas zu bewirken. Das sehe ich beispielsweise an der lebendigen Clubkultur- und Livemusikszene. Und dass Kultur weiterhin einen hohen Stellenwert sowohl in der Stadtpolitik als auch in der Bevölkerung besitzt, lässt sich sehr gut am stabilen städtischen Kulturetat ablesen.

Aber Sie haben nach den wichtigsten kulturpolitischen Themen gefragt. Letztlich geht es immer darum, die verschiedenen Stränge klug miteinander zu verknüpfen, um sie zu profilieren, um sie deutlicher wahrnehmbar zu machen, um sie interessant zu halten für Besucherinnen und Besucher – und immer auch darauf zu achten, dass es eine Balance gibt zwischen dem, was uns auf die internationale Bühne hebt, und dem, was die Leipzigerinnen und Leipziger vor Ort an kulturellen Ansprüchen haben.

Was ist das genau? Was hebt Leipzig international heraus?

Leipzig vertritt mit den Traditionseinrichtungen der Musikkultur, wie dem Thomanerchor Leipzig, dem Gewandhausorchester, dem Bach-Archiv, der Oper Leipzig, dem Mendelssohn-Haus und dem Schumann-Haus, den Anspruch, sich international zu positionieren. Dies haben wir 2019 mit der Einführung der Marke »Musikstadt Leipzig« untermauert, die von der Leipzig Tourismus und Marketing GmbH international platziert wird. Damit verbunden ist ein Festivalreigen mit dem jährlichen Bachfest Leipzig sowie alternierend den Opern-Festtagen und den Gewandhaus-Festtagen.

Mit »Wagner 22« gelang ein Auftakt, der weltweit wahrgenommen wurde. Die Oper Leipzig hat in chronologischer Reihenfolge sämtliche Musikdramen Richard Wagners – der in Leipzig geboren wurde – auf die Bühne gebracht. Das war ein Jahrhundertereignis, das Leipzig zum Vibrieren gebracht hat. Daran knüpfen in diesem Jahr die Gewand-haus-Festtage mit dem »Mahler-Festival 2023« an. Auch das jährliche Bachfest Leipzig hat sich zu einer weltweiten Größe entwickelt.

Jetzt gilt es, die Freie Szene in diese Festivallandschaft miteinzubeziehen, denn auch dort gibt es, wenn auch kleinere, so doch hochkarätige Festivals.

Leipzig ist Messestadt. Ein Kulturgroßereignis ist jedes Jahr die Leipziger Buchmesse. Welche Bedeutung hat das auch für Ihre kulturpolitische Arbeit?

Die Buchmesse und das Festival »Leipzig liest« bieten Raum für das öffentliche Lesen und die Begegnung zwischen Publikum und Autorinnen und Autoren. Auch das wuchs aus einer starken Tradition heraus: Insbesondere zu DDR-Zeiten gab es das Bedürfnis, die Buchmesse als »Fenster zur Welt« zu nutzen, denn hier waren Begegnung und Austausch möglich. Diese Neugier hat sich bis heute gehalten. Während der Leipziger Buchmesse spürt man eine andere Aufregung in der Stadt. »Leipzig liest« hat sich mit der Buchmesse in den letzten Jahren zunehmend zu einem Diskursort entwickelt, an dem gesellschaftspolitische Themen verhandelt werden, an dem sich Literatur einmischt und vor allem den Blick nach Osteuropa richtet – was in der gesamtpolitischen Wahrnehmung häufig zu kurz kommt. Kulturpolitisch übernimmt die Stadt Leipzig zusammen mit einem Kuratorium die Verantwortung für die Verleihung des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung zur Eröffnung der Buchmesse: in diesem Jahr an die russische Autorin Maria Stepanova, eine Entscheidung, die sich die unabhängige Jury nicht leicht gemacht hat.

Sie haben schon erläutert, welche wichtigen Stellenwert die klassische Musik traditionsbedingt in Leipzig hat. Doch auch Leipzig Clubszene ist heutzutage sehr stark aufgestellt. Orte wie das Conne Island oder das Institut für Zukunft sind international bekannt. Welche Rolle spielt die Club- bzw. die Nachtkultur in Ihrer Kulturpolitik?

Sie haben einen wichtigen Club vergessen: Distillery. Tatsächlich ist die Nachtkultur bisher zu wenig kulturpolitisch beachtet worden. Elektronische Musik ist für sehr viele Menschen, und man sollte dies nicht am Alter festmachen, eine Lebenskultur. In vielen Clubs wird auch Livemusik gespielt. Die drei genannten Clubs, aber auch das UT Connewitz oder das Elipamanoke, sind tatsächlich deutschlandweit bekannt. Bei den jährlichen Verleihungen der APPLAUS-Awards für herausragende Musikclubs mit innovativem Programm gehen Leipziger Livemusikspielstätten immer mit Preisen hervor – häufig auch mehrfach. Die Stadt Leipzig hat dieser Entwicklung Rechnung getragen, auch aus einer Problemlage heraus. Leipzig ist eine wachsende Stadt. Das bedeutet, dass Freiraum schwindet, die Wohnbebauung sich erweitert und an Clubstandorte heranrückt, was Konflikte mit sich bringt und zu Verdrängung führt. Die Clubakteure formulierten deshalb das Bedürfnis, sich stärker mit Stadtpolitik und Verwaltung zu vernetzen. Initiiert vom LiveKommbinat, einem Zusammenschluss der Livemusikspielstätten, entstand daraufhin gemeinsam mit der Stadtverwaltung ein Konzept der Nachtkultur. Dieses sah unter anderem die Einrichtung einer städtischen Anlaufstelle »Fachbeauftragter für Nachtkultur« vor: Seit 2021 vernetzt Nils Fischer in der Verwaltung, öffnet Türen und lotst die Clubs durch die Behörden und umgekehrt. In der Freien Szene hat sich der Leipziger Nachtrat gegründet, ein Zusammenschluss, bei dem sich Veranstalterinnen und Veranstalter unter anderem mit Sicherheitsbehörden, Interessenverbänden der Wirtschaft, Vereinen der Gesundheitsprävention sowie unserem Fachbeauftragten treffen. Hier geht es darum, Herausforderungen zu besprechen und gemeinsam zu lösen. Dazu gehören das Vermeiden von ordnungswidrigen Tatbeständen, die Gewährleistung von Sicherheit im öffentlichen Raum sowie ein umfassendes Awareness-Konzept etc. Mit dem Doppelhaushalt 2023/24 entsteht außerdem die Möglichkeit, dort eine Personalstelle zu installieren, die spiegelbildlich zum städtischen Fachbeauftragten für Nachtkultur diese Initiativen koordiniert. Ich hoffe sehr, dass es mit diesem Konzept der Nachtkultur, das deutschlandweit einmalig ist, gelingt, dieses sehr wertvolle Kulturfeld zu erhalten und weiterzuentwickeln.

Die Erinnerung an die DDR und die Wiedervereinigung haben Sie schon angesprochen. Welchen Stellenwert nimmt diese im großen Feld der Erinnerungskultur ein? Und was machen Sie darüber hinaus?

Wie in allen großen Städten ist die Erinnerungskultur ein stark umkämpftes Feld, weil hier eine Auseinandersetzung über politische Grundwerte stattfindet. Wenn die Zukunft als unsicher erlebt wird, dann ist das Bedürfnis, sich Anker in der Vergangenheit zu schaffen, besonders groß. So erkläre ich mir ein Stück weit die Hochkonjunktur für das Thema. Das ist kein Leipziger Phänomen.

Gegenwärtig entwirft eine städtische Arbeitsgruppe im Austausch mit Vereinen und Initiativen ein Konzept Erinnerungskultur, und natürlich gibt es in Leipzig herausragende historische Ereignisse, wie die Friedliche Revolution im Herbst 1989, die auf besondere Weise in die bundesdeutsche, wenn nicht gar europäische und globale Demokratiegeschichte einzahlen. Das zu konfigurieren und auch in Zukunft erlebbar zu machen, ist eine der zentralen Herausforderungen im städtischen Konzept Erinnerungskultur. Es soll kein erinnerungspolitischer Kanon sein, sondern es beschreibt vielmehr einen Rahmen und Verfahrensgrundsätze, wie wir Erinnerungskultur gemeinsam gestalten wollen. Das kann eine Stadtverwaltung heute nicht mehr allein – und sie wäre auch schlecht beraten, wenn sie diesen Anspruch hätte. Sondern es geht darum, routinehaft Gremien zu schaffen, in denen sich die Zivilgesellschaft wie Vereine, Verbände und bürgerschaftliche Initiativen einbringen können. Es geht auch darum, bisher weniger beachteten erinnerungspolitischen Themen Gehör zu verschaffen. So soll ein gesamtstädtisches Gremium entstehen, das Anregungen sammelt und darüber nachdenkt, wie eine auf Vielfalt beruhende Stadtgesellschaft ihre Erinnerungskultur gestaltet. Dies muss in eine systematische Ordnung gebracht werden, die Orientierung gibt, aber auch nicht ausschließt und nicht abschließt.

Lassen Sie uns noch über Leipzigs Museen sprechen. Ab 2024 sollen Ausstellungen in den Städtischen Museen entgeltfrei werden. Was erhoffen Sie sich von dieser Entscheidung? Was können andere Städte hier auch von Leipzig lernen?

Der Eintritt in die Dauerausstellungen der städtischen Museen soll entgeltfrei sein. Die Kulturverwaltung hat lange um diesen Schritt gerungen; geplant war dies schon für 2020.

Die musealen Sammlungen der Stadt sind aus einer bürgerschaftlichen Tradition heraus entstanden. Es lag also nahe, dass die städtischen Museen daran anknüpfen wollen, indem sie sich stärker für die Bevölkerung öffnen und die Aufenthaltsqualität vor Ort verbessern. Die Bürgerinnen und Bürger ebenso wie die Gäste der Stadt sollen die Häuser erobern und sie zu ihren eigenen machen – z. B. als Aufenthaltsorte für Begegnung und Gespräche. Dieses Konzept des Dritten Ortes ließ uns fragen, ob wir uns die Entgeltfreiheit in Dauerausstellungen leisten können. Die Coronapandemie sorgte zunächst für eine Verzögerung. Aber gerade die Pandemieerfahrung und nun die Energiekostensteigungen sowie die damit verbundenen Zukunftsängste der Menschen haben für uns den Schritt notwendiger werden lassen. Die vielen Lockdowns und der Schmerz über das, was uns dort gefehlt hat, haben uns bestärkt.

Das fehlende Eintrittsgeld wird im städtischen Haushalt ersetzt, damit verbunden ist eine Investition in die Ausstattung der Häuser. Die Museen müssen mehr Sitzgelegenheiten schaffen, die Cafés und die gastronomische Versorgung verbessern, die Museumsshops ausbauen, sodass mehr Einnahmen generiert werden. Aber man muss auch die Vermittlungsangebote stärken und den Anspruch, dass die Museen wirklich erobert werden dürfen, mit einer guten Marketingstrategie umsetzen. Das kostet Geld. Sehr viel mehr als nur die Kompensation des fehlenden Eintritts. Dies bleibt eine Herausforderung. Aber wir sind überzeugt von diesem Schritt.

Was ist noch im Rahmen des Museumskonzeptes 2030 geplant? Welche Veränderungsprozesse stehen weiterhin an?

Insgesamt hat die Museumskonzeption 2030 acht Handlungsfelder. Ein Punkt ist u. a. die stärkere transkulturelle Ausrichtung der Häuser. Außerdem ist und bleibt die Provenienzforschung ein wichtiges Feld – für die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, aber natürlich auch speziell für die Aufarbeitung der DDR-Zeit und der Zeit der sowjetischen Besatzung.

Ein wichtiger Prozess, den in den kommenden Jahren nicht nur die Museen durchlaufen, sondern alle großen Musik- und Bühnenhäuser ebenso wie die Freie Szene, ist das Thema Nachhaltigkeit im Kulturbetrieb. Leipzig ist zusammen mit der Stadt Dresden federführend bei der Entwicklung eines CO2-Rechners für den Kulturbereich, den wir sukzessive für alle beteiligten Einrichtungen öffnen wollen. Im Ergebnis soll der Emissionsrechner einen vollumfänglichen CO2-Fußabdruck liefern, der erstmals alle direkten und indirekten Emissionen der Kultureinrichtungen und -veranstaltungen ermittelt.

Weiterhin initiieren wir einen Dialog zur Kreislaufwirtschaft. Das Feld bietet viele ökologische Vorteile: Was auf der einen Seite – in Theatern und Museen – nicht mehr benötigt wird, kann auf der anderen Seite Verwendung finden und Mittel sparen. Hier sondieren wir gegenwärtig, welche rechtlichen Grundlagen für die kostenfreie Abgabe bestehen und welche Informationsketten und Organisationsstrukturen es dafür braucht. Auch planen wir ein größeres EU-Projekt, um von anderen Kommunen – auch im europäischen Kontext – zu lernen. Den Kultureinrichtungen stehen also viele neue Prozesse bevor.

Lassen Sie uns noch einen Blick auf die Freie Szene in Leipzig werfen: Wie ist die nach der Coronapandemie und in der Energiekrise aufgestellt?

Gern möchte ich vorausschicken, dass die Freie Szene in Leipzig ganz wesentlich zum kulturellen Lebensgefühl beiträgt. Dem hat die Stadt Leipzig auch grundsätzlich Rechnung getragen, indem wir, beginnend ab 2019 die Förderung für die Freie Szene fast verdoppelt haben. Wir liegen jetzt bei 11 Millionen Euro. Das ist im Verhältnis zur Einwohnerzahl eine sehr beachtliche Zahl. Nicht zuletzt auch wegen der unglaublichen Lebendigkeit und Vielfalt der Freien Szene setzte z. B. ein Reiseführer wie Lonely Planet im Jahr 2021 Leipzig auf Platz 1 der ultimativen Reiseziele in Deutschland.

Aber ich will auch nicht verschweigen, dass der Wiedereinstieg nach Corona für die Freie Szene besonders schwer war und ist. Die Planungsunsicherheit ist ein Faktor. Langsam entspannt sich die unsichere Publikumssituation wieder. Die Menschen kommen zurück. Aber was ich auch wahrnehme, ist eine unglaubliche Erschöpfung. Hinter allen liegt eine enorm arbeitsdichte Zeit, in der man unter großer Anspannung versucht hat, jeden Tag Lösungen zu finden, das Team zusammenzuhalten und das Programm neu zu erfinden. Hinzu kommt natürlich die komplizierte Fördermittelsituation. Die Verwaltung der Förderprogramme ist insbesondere für kleinere Einrichtungen wirklich eine Herausforderung. Das soll kein Klagen sein. Aber man muss anerkennen, dass dies unglaublich mühsam ist. Wir müssen der Freien Szene ein bisschen Zeit geben, sich wieder zu konsolidieren. Ich wünsche allen, dass sie die Kraft finden, sich wieder neu aufzustellen und Kraft und Zuversicht zu schöpfen.

Eine letzte Frage noch: Sie sind geborene Leipzigerin. Was ist Ihr Lieblingskulturort in Leipzig? Und was würden Sie jemandem empfehlen, der in die Stadt kommt?

Jemandem, der in die Stadt kommt, würde ich einen Gang in die Thomaskirche an das Grab von Johann Sebastian Bach empfehlen. Am besten zur Zeit der Motette, wenn der Thomanerchor singt. Es gibt wenig berührendere Orte und Momente.

Mein persönlicher Lieblingsort: Ich mag es sehr, in der Abenddämmerung durch den Johannapark zu gehen. Da hat man den schönsten Blick auf Leipzig. Das ist kein unmittelbarer Kulturort, aber doch auch Stadt- und Parkkultur.

Vielen Dank.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2023.