März 2022: Eine deutsche Musikerin wird von einem Konzert der Bewegung »Fridays for Future« (FfF) ausgeladen, weil sie als weiße Person Dreadlocks trägt. Das, so die Begründung der FfF-Ortsgruppe Hannover, sei rassistisch und kolonialistisch. März 2021: Eine Politikerin der Grünen gerät in einen Sturm der Empörung, weil sie auf einem Parteitag auf die Frage, was sie als Kind werden wollte, antwortet: »Indianerhäuptling«. Die Sequenz wird aus dem Parteitagsvideo herausgeschnitten, und sie muss sich für ihre unsensible, kolonialistische Ausdrucksweise entschuldigen. Beide Frauen – so die Vorwürfe – haben sich der kulturellen Aneignung schuldig gemacht: Als Angehörige einer herrschenden Kultur haben sie sich Artefakte unterdrückter, ehemals versklavter oder sonst wie marginalisierter Kulturen angeeignet, ohne dazu das Recht zu besitzen.

Kulturelle Aneignung ist ein umkämpfter Begriff, geradezu: ein begrifflicher Knotenpunkt der kulturellen Kämpfe in unserer Gegenwart. Wer kulturelle Aneignung, Cultural Appropriation, betreibt, der macht sich einem vielerorts verbreiteten Verständnis zufolge dabei einer Enteignung schuldig, eines Diebstahls. Die für dieses Verständnis einschlägige Begriffsdefinition hat die Juristin Susan Scafidi formuliert, in ihrem Buch »Who Owns Culture? Appropriation und Authenticity in American Law« aus dem Jahr 2005: »Cultural Appropriation, das ist: wenn man sich bei dem intellektuellen Eigentum, dem traditionellen Wissen, den kulturellen Ausdrücken oder Artefakten von jemand anderem bedient, um damit den eigenen Geschmack zu bedienen, die eigene Individualität auszudrücken oder schlichtweg: um daraus Profit zu schlagen.« Darum werden weiße Menschen beschämt, wenn sie Dreadlocks tragen, also Frisuren, die mit einer karibisch-jamaikanischen Kulturtradition assoziiert werden. Schwarze Menschen werden beschämt, wenn sie – wie der afroamerikanische Rapper Kendrick Lamar, der sich anlässlich seines 2017 erschienenen Albums »DAMN.« als »Kung Fu Kenny« präsentierte – in die Maske von chinesischen Kampfsportlern schlüpfen. Asiatische Künstlerinnen wiederum werden beschämt, wenn sie – wie die K-Pop-Gruppe Blackpink – ihre Haare zu Braids stylen, also zu Flechtfrisuren aus einer afrikanischen und afroamerikanischen Tradition.

In jedem einzelnen dieser Fälle lassen sich Gründe dafür finden, warum eine bestimmte Art der kulturellen Aneignung als unangemessen erscheint; in manchen lässt sich der – in den sozialen Netzwerken leicht hochgeschaukelten – Empörung mit Gründen widersprechen; in vielen Fällen hatte man auch den Eindruck, dass die Erregung künstlich erzeugt wurde von Kreisen, die gerne den Eindruck vermitteln wollen, dass »die Linken« heute die wahren Gegnerinnen und Gegner der Meinungsfreiheit sind, weil sie unablässig jemandem etwas verbieten wollen, was doch eigentlich ein Menschenrecht ist: etwa sich die Haare so zu frisieren, wie es einer oder einem gerade passt.

In der stetig sich verlängernden Reihung solcher Fälle entsteht gleichwohl vor allem ein Eindruck: Die Debatte um Cultural Appropriation kreist gegenwärtig nur um Kritik und Untersagungen und wird vor allem, wenn nicht ausschließlich, im Modus der Verbotsrede geführt. So unmittelbar einsichtig in jedem einzelnen Fall die Einsprüche gegen die Aneignung der kulturellen Traditionen von »jemand anderem« auch sein mögen, so sehr widersprechen diese Verbotswünsche in ihrer Summe doch dem ebenso unmittelbar einsichtigen Eindruck, dass es so etwas wie in sich geschlossene, mit sich selber identische kulturelle Traditionen gar nicht gibt, weil jede Art der Kultur schon immer aus der Aneignung anderer Kulturen entstanden ist; weil sich kulturelle Schöpfung, Beweglichkeit und Entwicklung ohne Appropriation gar nicht denken lässt. Kultur ist Aneignung, was umso mehr gilt in einer Welt, die geprägt ist von der Globalisierung der Kommunikation und der kulturellen Produktion. Seit die elektronischen Massenmedien und schließlich das Internet jedes irgendwo auf der Welt existierende Bild, jeden Sound, jede Art der Selbstinszenierung jederzeit verfügbar gemacht haben, kann man sich jederzeit von jedem beliebigen »kulturellen Artefakt« (Susan Scafidi) aus welcher Tradition auch immer inspirieren, anregen, herausfordern lassen. Und dass das so ist, bedeutet zunächst einen Zuwachs an Möglichkeiten, an individueller, künstlerischer und existenzieller Freiheit.

Appropriation ist eine schöpferische, kulturstiftende Kraft. Das ändert aber nichts daran – und insofern hat die Kritik an kulturellen Aneignungen einen wahren Kern –, dass sie in Gewalt- und Ausbeutungsverhältnisse verstrickt ist. Man könnte sagen, dass dies für jede Art der Kultur gilt. Doch treten diese Verhältnisse in bestimmten Formen der Appropriation besonders deutlich zutage: Es sind jene, die der Gewaltgeschichte des Kolonialismus entspringen. Der postkoloniale Theoretiker Paul Gilroy hat in seinem Buch »The Black Atlantic« beschrieben, wie die Kulturen ehemaliger Sklavinnen und Sklaven sowie kolonialisierter Völker von den Kolonialherrinnen und Kolonialherren angeeignet und ausgebeutet worden sind und es bis heute werden – dies ist gewissermaßen die Blaupause für eine sich als prinzipiell verstehende Kritik des Appropriierens an sich. Andererseits taugt die Kultur des »schwarzen Atlantik«, wie man aus Gilroys Ausführungen lernen kann, kaum für eine juridisch begründete Kritik des Appropriierens, wie sie sich bei Susan Scafidi findet. Denn wenn man Kultur als Eigentum ansehen möchte, muss man sie ja als in sich geschlossenen Ausdruck eines homogenen Kollektivsubjekts begreifen. Für die Kulturen des »schwarzen Atlantik« gilt das gerade nicht: Sie sind gekennzeichnet durch Hybridität; die erzwungene kulturelle Entwurzelung schlägt hier in den Reichtum einer im unaufhörlichen Werden begriffenen diasporischen Kultur um. Sie bildet also gerade das Gegenteil jenes Verständnisses von Kultur, das Gilroy als »völkisch« bezeichnet. Das ist ein provozierender Begriff – bei Gilroy im Original deutsch –, doch wäre zu fragen, ob nicht jede Betrachtung des Appropriierens, die in dieser nur etwas Negatives, zu Kritisierendes, zu Verbietendes sieht, nicht zwangsläufig auf den Holzweg jener Identitätslogik führt, der letztlich ins Völkische führt?

Um die innere Widersprüchlichkeit dieser Position zu verstehen, kann man sich auch die Frage stellen: Was wäre das Gegenmodell? Wie könnte etwa eine »weiße« Kunst aussehen, die keine Elemente anderer, nichtweißer Kulturen mehr appropriiert? Dieses Experiment ist gemacht worden: bei den kulturellen Akteurinnen und Akteuren der amerikanischen Alt-Right und der europäischen Identitären Bewegung. Sie wollen als legitime weiße Kultur nur noch gelten lassen, was keinerlei schwarze Einflüsse mehr aufweist, also etwa eine Musik, die ohne alle Bezüge auf Blues, Rock ’n’ Roll und Hip-Hop auskommt. Dieses Experiment war natürlich zum Scheitern verurteilt, weil Popmusik ohne diese Inspirationen nur noch marginal und öde ist. Man versteht am Beispiel dieser negativen Spiegelung aber auch intuitiv, dass die Forderung, dass schwarze Kultur nur noch schwarzen Menschen gehören soll, nirgendwo hinführt: Denn die Diversität, die wir heute als Kennzeichen einer entwickelten, emanzipierten Kultur ansehen, ergibt sich erst aus der Entfesselung von Appropriationen.

Es gibt kein Jenseits der Appropriation; es ist sogar so, dass jede emanzipatorische Form der Kultur notwendig eine appropriierende ist. Was andererseits nicht heißt, dass an Formen der kulturellen Aneignung keine Kritik mehr geübt werden darf. Eine Ethik der Appropriation sollte aber nicht in der Form des Verbots, sondern in jener des Gebots formuliert werden: Appropriiere, aber tue es richtig – indem du die Machtverhältnisse reflektierst, die sich in der Appropriation spiegeln; und indem du aus unterschiedlichen Einflüssen etwas Neues entstehen lässt, in dem die Elemente sichtbar und reflektiert bleiben, aus denen das Kunstwerk, die Selbstinszenierung, das »kulturelle Artefakt« zusammengesetzt ist. Die wahre Bedrohung der kulturellen Freiheit und Diversität liegt heute nicht in der Ausbeutung von Kulturen durch andere Kulturen – sondern vielmehr darin, dass jede Art des entfesselten Spiels der Diversität eingehegt werden soll durch das Ziehen von Grenzen, die einerseits immer wieder neue, scheinhafte Entfesselungen ermöglichen, mit denen sich der Profit an kulturellen Provokationen aufrechterhalten und steigern lässt – und an denen entlang andererseits unaufhörlich um Anerkennung gekämpft werden soll. Divide et impera: In ihrer unreflektierten (Verbots-)Variante ist die Kritik der Appropriation dem hegemonialen Diskurs der neoliberalen Fragmentierung und Entsolidarisierung näher, als sie es weiß. Dagegen wäre eine Ethik des Appropriierens zu setzen, die um die Ursprungslosigkeit aller kulturellen und Selbst-Verhältnisse weiß; die das Fremde im Eigenen freudig umarmt – und der die Solidarität im Diversen wichtiger ist als der Kampf aller gegen alle.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 07-08/2022.