Wie sieht die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks aus? Welche Aufgabe muss er in fünf oder zehn Jahren erfüllen? Wie muss er sich verändern? Solche Fragen werden nicht nur von Medienpolitikern der 16 Bundesländer, sondern auch von Medienwissenschaftlern, Juristen und Journalisten diskutiert. Diese Debatte war bisher vor allem durch Faktoren wie einer veränderten Mediennutzung oder der Notwendigkeit zu sparen geprägt und von der Frage nach dem Maß struktureller Reformen, um mit einem akzeptierten Aufwand möglichst alle Bevölkerungsgruppen mit Informations-, Kultur-, Bildungs- und Unterhaltungsangeboten zu erreichen.
Der Zukunftsrat, der von der Rundfunkkommission der Länder berufen worden war, forderte in seinem Bericht 2024 insbesondere eine Strukturreform der ARD. Er untersuchte aber nicht die Voraussetzungen für die nachhaltige Gewährleistung einer freien individuellen und öffentlichen Meinungsbildung unter digitalen Netzwerkbedingungen. »Die Gesellschaft benötigt eine gemeinsame Basis für ihre Selbstverständigung, einen Common Ground. Substanzielle Audio- und Videoproduktionen – vom Podcast über das Feature bis zum Hörspiel, vom Clip über die Serie bis zum Dokumentar- und Spielfilm – können dieser Selbstverständigung dienen, im Innern und auch mit Blick nach außen, nach Europa und in die Welt. Angesichts ihrer der Demokratie dienenden Funktion müssen die Öffentlich-Rechtlichen ihren Beitrag dazu leisten, die gesellschaftlichen und kulturellen Voraussetzungen unserer Demokratie zu erhalten und zu fördern«, formulierte der Report die zukünftige Aufgabe des breitragsfinanzierten Rundfunks. Hier setzt eine Studie an, die der ZDF-Verwaltungsrat in Auftrag gegeben hat und in der fünf Professorinnen und Professoren eine weitergehende Vision beschreiben. Die Anstalten sollen sich schrittweise zu einem »Digital Open Public Space« (DOPS), einem öffentlichen Raum der digitalen gesellschaftlichen Kommunikation, entwickeln und so ein Gegengewicht zu den dominierenden, privatwirtschaftlich organisierten sozialen Netzwerken bilden. Das Forscherteam verweist in seiner Analyse auf die große Verantwortung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks unter den heutigen plattformökonomisch geprägten digitalen Netzwerkbedingungen.
Nach Überzeugung der Vorsitzenden des ZDF-Verwaltungsrates Ministerpräsidentin a. D. Malu Dreyer könnte das ZDF mit dem Konzept des »Digital Open Public Space« Räume für freie und unabhängige Meinungsbildung schaffen und so zu gesellschaftlicher Verständigung und Zusammenhalt stärker als bisher beitragen. Um die »nötige Schlagkraft« gegenüber den Mega-Plattformen und ihren Algorithmen zu entwickeln, brauche es, so Dreyer, Partner aus dem öffentlichen wie privatwirtschaftlichen Sektor. Das Gutachten bestärke ZDF-Intendant Norbert Himmler, bei seinen Angeboten geschützte Kommunikationsräume zu schaffen und Menschen in einen gesellschaftlichen Diskurs zu bringen. Vorhandene digitale Plattformen sollten für den öffentlichen Dialog stärker eingesetzt werden.
Die Studie, die die »Perspektiven für den Digitalen Public Value im ZDF« untersucht, sieht vor allem beim bundesweit agierenden ZDF die strukturellen und konzeptionellen Voraussetzungen gegeben, um diesen Funktionswandel vorzunehmen. Derzeit verändert sich der Mainzer Sender bereits zu einem Streaming-Portal. Laut Gutachten sind dennoch Investitionen in die digitale Infrastruktur sowie eine Veränderung des Auftrags erforderlich. Der Wandel eines Senders zu einem Dialogmedium, so wie wir es heute beispielsweise von Whats App, X oder Signal kennen, muss von allen Bundesländern auch so in einem Medienstaatsvertrag vereinbart werden. Der Reformstaatsvertrag, über den gegenwärtig die Landtage beraten, verlangt von den Anstalten bereits einen stärkeren Dialog mit den Nutzern und mehr Inhalte, die eine Interaktion ermöglichen. So heißt es gleich zu Beginn des Staatsvertragsentwurfs: »Zur Erfüllung der demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Zielgruppen bieten die in der ARD zusammengeschlossenen Landesrundfunkanstalten, das ZDF und das Deutschlandradio in ihren Angeboten zielgruppengerechte interaktive Kommunikation mit den Nutzern an sowie verstetigte Möglichkeiten der Partizipation.« Dazu gehören die Partizipation bei Format-, Themenauswahl und Angebotsgestaltung sowie Inhalte, die Interaktion und Partizipation ermöglichen oder erleichtern. Damit übertrifft der neue Medienstaatsvertrag, nach Einschätzung der Autoren, die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, »weil er dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk Aufgaben zuordnet, die die Genese, Entfaltung und nachhaltige Funktionalität eines offen zu gestaltenden alternativen Common-Ground- und Gemeinwohl-Netzwerks als ein kompetenter, kooperativer sowie investitionsfähiger Ermöglicher (Enabler) unterstützt.« Mit dem Reformstaatsvertrag würden dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk bereits Pflichten bei der Produktion und Distribution publizistischer Leistungen sowie der Interaktion mit Nutzern übertragen, die eine Voraussetzung für eine mögliche geänderte Funktion darstellten. Diese Reformen reichten aber noch nicht aus.
Die Verfasser der 136 Seiten umfassenden Schrift gehen davon aus, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk eine »faktenbasierte, an demokratischen Grundwerten orientierte gemeinsamen Basis (Common Ground) gesellschaftlicher Verständigung« schaffen könnte. Dazu müsse sich aber das ZDF zu einem offenen, alternativen Common-Ground- und Gemeinwohl-Netzwerk verändern. Unter Nutzung von »Netzwerk-, Spiral-, Skalen-, und Ökosystem-Effekten könnte es einen qualitativen Differenzierungswettbewerb zu den marktmächtigen Plattformen und die Bildung eines wirksamen Common-Ground-Gegengewichts ermöglichen«, so die Analyse. Das ZDF müsste einen solchen Raum gesellschaftlicher Kommunikation in mehreren Phasen aufbauen, betont die Studie. Kurzfristig wären auf eigenen Plattformen Kommentar- und Feedback-Funktionen zu installieren, um »Erfahrungen mit Nutzerinteraktion« zu sammeln. Mittelfristig sollten diese Funktionen auf alle Inhalte ausgeweitet und Interaktionen über verschiedene Plattformen ermöglicht werden. Langfristig wäre so eine »vollständig offene, dezentrale Infrastruktur« denkbar, die auch andere gemeinwohlorientierte Akteure einbinden könnte. Zudem regen die Autoren an, dass das ZDF Software und Inhalte möglichst offen zur Verfügung stellt und Einschränkungen nur dort vorsieht, wo dies rechtlich oder wirtschaftlich erforderlich sei. Auch sollte die Anstalt ihr Portfolio an freien Inhalten sukzessiv vergrößern und priorisieren, welche Formate den größten Mehrwert für die Gesellschaft versprächen. Zu erwägen sei zudem eine spezielle Lizenz für Bildungs- oder Nachrichtenzwecke, um Bildungs-, Kultur- und Forschungseinrichtungen Rechtssicherheit und größtmöglichen Handlungsspielraum zu bieten. Die Experten empfehlen außerdem eine freie Lizenzierung von ZDF-Inhalten sowie eine grundsätzliche Offenlegung der Quellcodes von mit öffentlich-rechtlichen Mitteln entwickelter Software bzw. Algorithmen als Open Source für alle. Bestehende Ansätze wie das vom ZDF initiierte internationale Projekt »Public Spaces Incubator« greift das Gutachten gezielt auf und schlägt schließlich ein Set von Kennzahlen vor, mit denen sich Fortschritt bzw. Erfolg beim Gestalten eines solchen digitalen Raumes messen lassen könnten.
Die Wissenschaftler fordern als Voraussetzung für einen solchen »Digital Open Public Space«, dass die Medienpolitik einen entsprechenden Auftrag erteilen und das Budget des Senders erhöhen müsse, »um die personellen, organisatorischen und technischen Voraussetzungen für den Betrieb eines gemeinwohlorientierten digitalen Diskursraums schaffen zu können«. Dazu schlagen sie einen Zukunftsfonds, der »zweckgebunden, aber flexibel nutzbar« und nicht aus dem Rundfunkbeitrag resultieren soll, vor. Mit dem Aufbau eines Gemeinwohl-Netzwerks hätte das ZDF eine Perspektive, die seine Zukunft nicht darauf reduziert, ob ein Zusammengehen mit der ARD sinnvoll ist oder nicht. Allerdings setzt das voraus, dass die Länder schnell entscheiden, ob sie diese Veränderung mittragen. Um ein gesellschaftlich relevantes Gegengewicht zu den heutigen Social Media Plattformen zu schaffen, das auch die Mehrzahl der Bürger nutzt, dürfen hierfür nicht ʼzig Jahre verstreichen.