Zwischen 1933 und 1945 flüchteten etwa eine halbe Million Menschen vor den Nationalsozialisten ins Ausland. Auch fast 80 Jahre später sind Flucht, Vertreibung und Entwurzelung noch immer zentrale Erfahrungen unserer Zeit. Die Stiftung Exilmuseum, entstanden aus bürgerschaftlichem Engagement, will der Erinnerung ans Exil mit einem Museum einen festen Ort geben und eine Verbindung zwischen dem Exil damals und heute schlagen. Wie dies funktionieren kann, schildern André Schmitz und Cornelia Vossen im Gespräch mit Theresa Brüheim.

Theresa Brüheim: Herr Schmitz, wieso hat es so lange gedauert, in Deutschland ein Museum des Exils zu errichten?

André Schmitz: Diese Frage haben wir, die wir uns seit 2018 für die Entstehung dieses Museums einsetzen, auch gestellt – und tun es bis heute. Nun ist es so, dass man sich erst ab Ende der 1970er Jahre mit dem Holocaust, diesem dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte, zu befassen begann. Die Geschichte der Vertriebenen und ins Exil Geschickten war damals noch überhaupt kein Thema. Es gab ja diesen Standardvorwurf der Deutschen, die zu Hause geblieben sind – aus welchen Gründen auch immer – gegen die, die ins Exil gegangen sind: Letztere hätten sich im Ausland ein leichtes Leben gemacht. Diese kollektive Erzählung der Deutschen – »Wir haben ja auch so gelitten« – habe ich selbst noch erlebt.

Die kollektive Verdrängung der Deutschen war nach dem Zweiten Weltkrieg sehr groß. Und wenn man schon den Holocaust verdrängen kann – was wir Nachgeborenen uns angesichts dieses Menschheitsverbrechens überhaupt nicht vorstellen können –, war das Verdrängen der rund 500.000 deutschsprachigen Bürgerinnen und Bürger, die ins Exil gingen, offensichtlich ein Leichtes. Aber trotzdem bleibt die Frage, die Sie mir gestellt haben – zumindest in Bezug auf die letzten 20 Jahre.

Cornelia Vossen: 2011 folgte dann der Brief von Herta Müller an die Kanzlerin, in dem sie ein Museum des Exils forderte. Die Antwort des damaligen Kulturstaatsministers Bernd Neumann war eine virtuelle Ausstellung in Form der Webseite »Künste im Exil«. Dies war ein Netzwerkprojekt unter der Federführung des Exilarchivs der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt, dem eine ständige Archivausstellung folgte. Aber das ersetzt nicht eine zentrale Gedenkstätte in der Hauptstadt, zu der man gehen kann und mit der man den ins Exil getriebenen Menschen wieder einen Ort und damit eine »Ver-Ortung« in unserer Gedenkkultur verschafft. Dies gab auch den Impuls für die Gründung unserer zivilgesellschaftlichen Initiative, der Stiftung Exilmuseum Berlin.

Wie wollen Sie Menschen, die nie im Exil leben mussten, die das nie erfahren haben, heute in einem Museum Exil verständlich machen?

Schmitz: Das Thema des Exils ist heute noch aktueller geworden – durch die dramatisch zunehmenden Fluchtwellen in den letzten Jahren. Als wir die Planung für unsere zivilgesellschaftliche Stiftung begannen, haben wir erstmal nur an das NS-Exil gedacht. Wir wollten, und das wollen wir auch weiterhin, der 500.000 deutschsprachigen Menschen gedenken, denen das NS-Regime alles geraubt hatte, was sie hatten – bis auf ihr Leben. Unser Land hat sie nie mit einem ehrenden Gedenken gewürdigt. Diesen Defiziten in der Erinnerungskultur wollen wir mit unserem Museum entgegenarbeiten. Aber natürlich weist das über das deutschsprachige Exil weit hinaus. Das Thema Exil hat nicht erst etwa bei den Armeniern angefangen, sondern wir erleben es jetzt auch. Die ganze Welt steht heute auf dem Kopf und Millionen Menschen müssen ihre Heimat verlassen – nicht freiwillig, sondern weil sie aus unterschiedlichen Umständen vertrieben werden. Ich kenne keinen anderen Erinnerungsort, der in der Vergangenheit fußt, aber so direkt die Brücke ins Heute schlagen kann, wie unsere Idee des Exilmuseums ausgehend vom deutschsprachigen Exil. Wir wollen einen Ort schaffen, an dem man beides verbinden kann: das historische und heutige Exil. Um aus der Geschichte zu lernen.

Vossen: Herta Müller hat das genannt: »den Inhalt des Wortes Exil begreifbar machen«.

Schmitz: Genau. Das treibt uns an. Das ist wie eine Medaille, die zwei Seiten hat. Die eine ist: Wir wollen die, die von uns – oder von unseren Vätern und Großvätern – vertrieben wurden, ehren, sie nicht der Vergessenheit anheimgeben. Die andere ist, dass wir gleichzeitig auch Sensibilität für die Menschen wecken wollen, die heute zu uns ins Exil kommen. Unser Gründungsdirektor Christoph Stölzl hat immer bei unseren gemeinsamen Besuchen bei Abgeordneten erzählt, dass viele Menschen, die kürzlich nach Deutschland gekommen sind, oftmals gar nicht glauben können, dass das auch Deutschen passiert ist. Für sie steht Deutschland heute für Frieden und Rettung – quasi eine Insel der Seligen. Dass Deutsche auch mal diese Exilerfahrung gemacht haben, berührt sie besonders.

Ist das eine der Botschaften, die Sie mit dem Museum erzählen bzw. vermitteln wollen?

Schmitz: Wir wollen die Menschen ehren, denen der eigene Staat so viel Unrecht angetan hat. Und die Botschaft für heute lautet: Wenn Verfolgte zu uns kommen, behandelt sie anständig und helft ihnen in ihrer Not. Das sage ich bewusst so empathisch.

Vossen: In der geplanten Dauerausstellung geht es uns tatsächlich darum, diese Empathie zu wecken. Zwar ist der Kern der künftigen Ausstellung das NS-Exil, aber wir haben sehr viele Elemente, die diesen Brückenschlag zur Gegenwart herstellen: Es wird z. B. einen eigenen Raum zu »Exil heute« geben sowie eine Wechselausstellungsfläche für museumspädagogische Arbeit dazu. Zudem entwickeln wir einen »Pfad des Exils«, der sich durch fast alle Ausstellungsräume ziehen wird. Diesen muss man sich vorstellen als eine Art Raum-in-Raum-Struktur, sprich einzelne Kabinette, die sich verschiedenen Motiven aus der Erfahrung des Exils widmen – wie »Warten«, »Pass/Identität« oder »Leben in der Fremde«. Nehmen wir beispielsweise das Kabinett zum Thema Warten – auf den lebensrettenden Pass, das entscheidende Visum: Dort trifft man dann z. B. eine Warteraum-artige Situation, in der man Zitate aus der Exilliteratur von damals und heute lesen kann, die beschreiben, wie die Menschen im Amt warten und Behördengänge durchlaufen müssen. Das Verrückte ist: Wenn man diese Zitate nebeneinanderstellt, kann man nicht eindeutig sagen, welches Zitat aus welcher Zeit stammt. So ähnlich ist die Erfahrung, die darin beschrieben wird.

Schmitz: Damals wie heute musste man ein Visum kriegen, überhaupt ein Aufnahmeland finden und das Geld haben, dahin zu gehen. Wenn man noch einen Bekannten hatte, war es gut. Es hat sich wirklich nichts verändert diesbezüglich.

Ende März eröffnen Sie vorab Ihren Interimsstandort, die »Werkstatt Exilmuseum«. Was erwartet die Besucherinnen und Besucher?

Vossen: Die Idee dieser Werkstatt ist, dem Projekt mehr Sichtbarkeit zu verschaffen. An ihrem Standort in der Fasanenstraße ist nun nicht nur unser Stiftungsbüro untergebracht, sondern im ersten Stock gibt es auch ein Labor, in dem man Workshops besuchen, uns bei der Arbeit über die Schulter schauen und partizipativ an der Ausstellung mitwirken kann. Im zweiten OG – dem Bereich Ausstellung – präsentieren wir erste Inhalte und stellen das Neubauvorhaben vor. Wir haben ein umfängliches Netzwerk aufgebaut mit Partnerinnen und Partnern, die uns Objekte dauerleihen und mit uns kooperieren. Bereits hier wollen wir wechselnden Institutionen die Möglichkeit geben, ihre eigene Einrichtung und Arbeit zum Exil vorzustellen. Den Anfang macht das Exilarchiv der Deutschen Nationalbibliothek. Ganz oben unter dem Runddach schließlich befindet sich der Kuppelsaal, den wir das Forum nennen. Dort werden Veranstaltungen, Filmvorführungen, Gespräche und vieles mehr stattfinden. Es wird ein buntes Haus, das unterschiedlichste Funktionen hat und die Leute neugierig machen und dazu anregen soll, das Museum aktiv mitzugestalten.

Schmitz: Wie das Exilmuseum versteht sich auch bereits die Werkstatt als ein Zentrum zu Fragen rund um das Exil – damals wie heute. Christoph Stölzl hat immer gesagt, seine Idealvorstellung von der Fasanenstraße wäre, dass wir, wenn das Wort Exil im kulturellen oder politischen Bereich fällt, alle automatisch an dieses Haus denken. Wir wollen das Haus für alle Exilgruppen öffnen.

Vossen: Am Eröffnungswochenende, dem 25. und 26. März, wird unser Netzwerk bereits konkret sichtbar werden: Da kooperieren wir mit dem Berliner Ensemble, der Deutschen Kinemathek und der Körber-Stiftung aus Hamburg, die eigene Veranstaltungen einbringen. Der ukrainische Theatermacher Pavlo Arie, der Schauspieler Burghart Klaußner und der Autor Ilija Trojanow werden dabei zu Gast sein und das Thema Exil in unterschiedlichster Weise beleuchten.

Der Museumsneubau findet sich dann allerdings am Anhalter Bahnhof. Welche Rolle kommt dem Ort dabei zu?

Schmitz: Wir haben lange nach einem passenden Ort in Berlin gesucht. Berlin hatte früher nie einen richtigen Hauptbahnhof, sondern bis 1945 gab es verschiedene Kopfbahnhöfe. Dabei war der Anhalter Bahnhof der entscheidende Bahnhof, an dem alle Züge nach Paris, Rom usw. gingen. Unzählige Verfolgte haben über den Anhalter Bahnhof Deutschland verlassen. Es gibt viele schriftliche Dokumente und Fotografien, in denen dieser Moment festgehalten ist. Der Anhalter Bahnhof ist deshalb eine Art Genius Loci für unser Projekt – er steht für das Abschiednehmen und Ins-Exil-Gehen. Aber von dort wurde auch deportiert. Der Standort ist also historisch aufgeladen und liegt heute zugleich in einem multikulturellen Bezirk.

Vossen: Dieser Aspekt ist tatsächlich von Bedeutung für uns: Wir wollen nicht wie ein UFO auf dem Platz landen, sondern Teil der Bezirksarbeit und Stadtteilkultur sein. So wird der Bezirk im Neubau eigene Flächen für die kulturelle Nutzung bekommen. Und auch der angrenzende Sportplatz bekommt Sportfunktionsräume in dem Gebäude, die die Sportlerinnen und Sportler sich schon lange gewünscht haben. Wir denken passend dazu bereits über eine erste Wechselausstellung zum Thema »Sportler*innen im Exil« nach.

2026 soll das Exilmuseum eröffnen. Was steht bis dahin noch an?

Schmitz: Vor allen Dingen Geld sammeln – um es etwas profan wieder auf den Boden der Tatsachen zu bringen. Denn wir sind eine private Initiative. Anhand des Architektenwettbewerbs, den die dänische Architektin Dorte Mandrup gewonnen hat, konnten wir zum ersten Mal die Kosten realistisch prüfen. Wir haben bisher 20 Millionen Euro eingesammelt. Aber im Moment schätzen wir die Gesamtkosten für das Exilmuseum inklusive Neubau, Ausstellung und allem Drum und Dran auf rund 60 Millionen Euro. Da besteht noch eine Finanzierungslücke.

Mit Christoph Stölzl war ich bis zu seinem plötzlichen Tod im Deutschen Bundestag unterwegs, um Lobbyarbeit für das Exilmuseum zu machen. Ich bin überzeugt, dass das eigentlich keine Aufgabe ist, die die Zivilgesellschaft allein wuppen sollte, sondern es ist auch eine staatliche Aufgabe. Die Bundesrepublik Deutschland, die sich als Nachfolgestaat des Deutschen Reiches versteht, muss diese Verantwortung selbst erfüllen. Aber wir helfen gern. Das hat in Berlin übrigens gute Tradition: Die Topographie des Terrors beispielsweise, heute ein hochangesehenes staatliches Museum, ist von einer privaten Initiative ins Leben gerufen worden, bis dann nachher der Bund und das Land Berlin eingestiegen sind. Das stelle ich mir hier auch so vor. Aber da ist noch Überzeugungsarbeit zu leisten. Obwohl es eine Aufgabe des Staates sein sollte, an die Bürgerinnen und Bürger zu erinnern, die er selbst unrechtmäßig vertrieben hat – und das ist noch eine zivile Ausdrucksweise. Das ist längst überfällig.

Was wird das Exilmuseum dann konkret zeigen? Welche Geschichten werden Sie erzählen?

Vossen: Es wird ein digitales, mediales Museum sein, das für seine Erzählung auch stark mit der Szenografie des Raumes arbeitet. Objekte werden nur sparsam und fokussiert ausgestellt. Im Mittelpunkt steht das Erzählen von Biografien. Das Herz des Exilmuseums bildet dabei das sogenannte Bioskop, ein Rundkino, in dem ausgewählte Lebensgeschichten »ausgestellt« werden. Als zweistöckiger Raum ist dieses eingebettet in eine lineare Abfolge von Räumen, die den Gang ins Exil nachvollziehbar machen sollen, bis hin zur Remigration. Mithilfe von großformatigen Medieninstallationen wollen wir insbesondere auch die Foto- und Filmschätze aus der Zeit heben und somit eine große Nahsicht auf diese Lebensgeschichten herstellen. Das ist der Kern.

Schmitz: Ich stelle immer gern die Frage: Was verbindet den Erfinder der Anti-Baby-Pille mit dem Erfinder der Shopping-Mall? Beide waren deutschsprachige Juden. Anhand so vieler Lebensschicksale können wir den enormen Erfolg deutschsprachiger Juden im Einwanderungsland zeigen. Sie haben dieses extrem bereichert und wurden von diesem bereichert. Daneben darf man aber natürlich nicht vergessen, dass es natürlich auch ein unendliches Elend für viele war. So zeigen wir das Schicksal einer Charlottenburger Ärztin, die heute niemand mehr kennt, aber deren Weg wunderbar durch ihr Tagebuch dokumentiert ist, neben dem von bekannten Menschen im Exil.

Es gibt noch kein Exilmuseum, aber andere Kultureinrichtungen befassen sich schon länger mit dem Thema. Welchen Platz soll das Exilmuseum dabei einnehmen?

Schmitz: Christoph Stölzl sagte immer: »Wir stehen auf den Schultern von Riesen«. Aber gerade weil das Thema in vielen Einrichtungen nur punktuell behandelt wird, versteht sich das Exilmuseum als zentrale Plattform und Schaufenster in der Hauptstadt auch für andere Kultureinrichtungen wie z. B. für das Leo Baeck Institute New York, die Akademie der Künste oder die Deutsche Nationalbibliothek, mit denen wir bereits kooperieren. Wir sehen uns dabei nicht so sehr als klassisches Museum, sondern möchten dem Thema einen festen Ort geben.

Was fordern Sie von der Kulturpolitik, zum Thema Exil zu tun?

Schmitz: Ganz einfach, dass sie unser Projekt zu ihrem eigenen macht. Wir verstehen uns als zivilgesellschaftliche Bewegung, die den Staat ein bisschen anschubsen will, das zu tun, was längst seine Pflicht gewesen wäre: nämlich ein ehrendes Andenken für die deutschen Staatsbürgerinnen und -bürger zu setzen, die sie selbst, weil sie sie nicht umbringen konnten, vertrieben haben – um es mal ganz deutlich zu sagen. Und damit zugleich einen Umgang mit der Tatsache zu finden, dass Deutschland heute selbst Einwanderungsland ist. Da können wir aus der Vergangenheit vieles lernen. Daher erwarte und fordere ich von der Kulturpolitik sowohl im Land Berlin als auch im Bund, dass sie sich endlich dieses Themas annimmt. Wir stellen unsere Vorarbeit gerne kostenlos in den Dienst der guten Sache.

Vielen Dank.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/2023.