M itte September fand deutschlandweit das erste Kinofest statt. Es wurde nicht nur der bisherige Besucherrekord des Jahres gebrochen, sondern sogar an das besucherstärkste Vergleichswochenende der letzten zehn Jahre, im September 2019, angeknüpft. Die teilnehmenden 685 Kinos mit ihren 3.193 Leinwänden und 560.878 Plätzen konnten fast 1,1 Millionen Besucher verzeichnen. Ziel der Branchenverbände HDF KINO, AG Kino, Bundesverband Kommunale Filmarbeit, Verband der Filmverleiher und der AG Verleih war es, das Kino zu feiern und den Besuchern mit einem preiswerten Angebot die Magie der großen Leinwand zurückzubringen. Das scheint gelungen. Allerdings können diese guten Zahlen nicht überdecken, dass es bisher 2022 noch nicht so gut gelaufen ist. Auch im ersten Halbjahr 2022 hatte die Coronapandemie auf den deutschen Kinomarkt deutliche Auswirkungen. 2022 konnten die Kinos von Anfang an öffnen – wenn auch unter teils strikten Zugangsbeschränkungen bis in den April hinein. Im Vergleich mit 2019 – dem letzten Jahr mit normalem Kinobetrieb – ist die Zahl der Kinobesuche um 38,1 Prozent auf 33,2 Millionen gesunken, der Umsatz um 33,8 Prozent auf 305,7 Millionen Euro. Zwar sind die Einnahmen im Juni sogar um 14,2 Prozent gestiegen, allerdings ist diese Steigerung zum Teil auf höhere Eintrittspreise zurückzuführen, die im Vergleich zum ersten Halbjahr 2019 um 7,1 Prozent auf durchschnittlich 9,21 Euro gestiegen sind. Tom Cruise war mit »Top Gun: Maverick« in den deutschen Kinos diesen Sommer so erfolgreich wie seit 17 Jahren nicht mehr. In Deutschland verzeichnete die Fortsetzung des Films bis Anfang September insgesamt 3.480.724 Kinobesucher und konnte den zweiten Platz der erfolgreichsten Filme des Jahres 2022 in Deutschland belegen. Die Nummer eins ist »Minions – Auf der Suche nach dem Mini-Boss« mit 3.718.922 Besuchern. Erfolgreichster deutscher Film ist bisher »Wunderschön«, der 1.649.240 Kinofans anlockte. 

Das Kinojahr 2022 bleibt weiterhin schwierig 

Auch im dritten Pandemiejahr hat sich der Kinobestand in Deutschland insgesamt kaum verändert. Die Zahl der Kinos, der Standorte und der Leinwände ist weitestgehend konstant geblieben. Ob das weiterhin so bleibt, ist unsicher, denn auch die Kinos müssen mit steigenden Energiepreisen und anderen höheren Kosten im Herbst kalkulieren. Für eine Erhöhung der Kinopreise besteht aufgrund rückläufiger Konsumausgaben der Bürger nur ein geringer Spielraum. Zudem findet in der traditionell besten Kinozeit, im November und Dezember, die Fußball-WM statt. Nach dem jüngsten politischen Hick-Hack um die Coronaschutzmaßnahmen ist nicht sicher, inwieweit diese Kultureinrichtungen in den nächsten Monaten darunter leiden werden. Auch der Wandel beim Kinobesuch setzt sich nach den vorliegenden Zahlen fort. Die Jüngeren sind noch für große Eventfilme zu begeistern, während die Älteren ab 45, das Kino verstärkt meiden. Deshalb sind die Arthouse- und Programmkinos von den schwindenden Besucherzahlen am meisten betroffen, trotz der Coronahilfen, die noch bis 2023 laufen.  

Aber nicht nur die Wirtschafts- oder Coronakrise bedrohen die traditionelle Kinolandschaft und Kinofilmproduktion, sondern auch der Wandel in der Mediennutzung. Zeitweilig geschlossene oder eingeschränkt nutzbare Filmtheater führen auch zu einer Entwöhnung vom Kulturort Kino. Der Ausbau der Streamingangebote, leistungsfähigere TV-Technik und die Gewöhnung an kleinere »Leinwände« sind zunehmend für ehemalige Kinogänger scheinbar eine Alternative. So hat Samsung auf der IFA 2022 in Berlin einen erneut größeren QLED-TV vorgestellt. Der »Fernseher« verfügt über eine beeindruckende Bildschirmdiagonale von 247 Zentimetern und bedient den Trend immer mächtigeren Screens für zu Hause. 

Streamingnutzung nimmt weiter zu 

Laut aktueller Ergebnisse des Convergence Monitor 2022 des Meinungsforschungsinstituts Kantar wächst die Online-Videonutzung weiter: 76,0 Prozent der Bevölkerung zwischen 14 und 69 Jahre geben an, mindestens einmal pro Monat Bewegtbild online zu nutzen. Filme stehen an erster Stelle. In den Niveaus zeigen sich jedoch deutliche Unterschiede: 62,9 Prozent geben an, im linearen TV am liebsten Filme zu sehen. Die Mediatheken der Fernsehsender liegen mit 61,8 Prozent fast gleichauf. Bei Streamingdiensten fällt diese Präferenz mit 83,4 Prozent klarer aus. Dort rangieren Serien auf Platz 2, mit 67,4 Prozent. Auch in Mediatheken und im TV sind Serien beliebt (42,7 % vs. 38,2 %). 

Dabei bleibt die Mediatheken-Nutzung insgesamt mit 29,9 Prozent auf einem konstanten Niveau (2021: 29,9 %). Der Anteil derjenigen, die Filme, Serien und Dokus kostenpflichtig streamen, wächst jedoch erneut deutlich auf nunmehr 38,0 Prozent. Im Vorjahr waren es noch 33,9 Prozent. 83 Prozent der Jugendlichen haben zu Hause Zugang zu einem Videostreamingdienst wie Netflix oder Amazon Prime. In diesen Zahlen spiegele sich das steigende Angebot an VoD-Plattformen, die zunehmende Attraktivität der unterschiedlichen Dienste, aber auch die anhaltende Relevanz des »großen Bildschirms« als wichtigstes Gerät für die Video-Nutzung wider, sagt Kerstin Niederauer-Kopf, Vorsitzende der Geschäftsführung der AGF-Videoforschung. 

So verfügen mittlerweile 60,9 Prozent der Haushalte über ein internetfähiges TV-Gerät (2021: 55,2 %). In 95,0 Prozent dieser Haushalte handelt es sich dabei um ein Smart TV-Gerät (2021: 89,7 %). Auch eine andere technologische Neuerung setzt sich nun immer weiter durch: der hochauflösende Standard 4K/8K/Ultra HD: Jeder dritte Haushalt kann mittlerweile in dieser Qualität Inhalte aus TV und Streaming sehen (32,2 %, 2021: 29,0 %).  

Durchschnittlich 22 Euro im Monat sind den deutschen Haushalten ihre Streamingdienste wert. 15,6 Prozent derjenigen, die mindestens ein Streamingabo haben, geben sogar über 30 Euro monatlich aus. Auf Netflix entfallen im Schnitt zwölf Euro, zehn Euro sind es für Prime Video – ebenso viel wird durchschnittlich für Disney+ ausgegeben. Mit 27,3 Prozent investiert der Großteil der Haushalte monatlich zwischen elf und 20 Euro dafür. Sechs bis zehn Euro bezahlen 22,7 Prozent. Der durchschnittliche Preis für ein Kinoticket betrug im ersten Halbjahr 9,21 Euro. Der Basis-Tarif bei Netflix ist für 7,99 Euro monatlich zu haben. Amazon Prime kostet 8,99 Euro.  

Das goldene Zeitalter der Streamingdienste ist vorbei 

Doch auch für Netflix und Co. wird es schwieriger, ausreichend zahlungsfreudiges Publikum zu erreichen. Die goldenen Zeiten, in denen man mit immer teureren Serien neue Nutzer ködern konnte, scheinen vorbei zu sein. Die Konkurrenz im Streamingmarkt wird größer und die Angebote differenzieren sich weiter aus. 

Die Welt des Streamings hat sich innerhalb eines Jahres verändert. Aus kühnen Wachstumsprognosen, die auch durch Nutzungszahlen während der Coronapandemie 2020/2021 befeuert worden sind, ist nun ein vorsichtiges Abwägen geworden. Netflix und andere Plattformen sorgen inzwischen nicht mehr nur mit steigenden Umsatzzahlen für Schlagzeilen, sondern auch mit Plänen für Personalabbau, die Platzierung von Werbung sowie die teilweise Reduzierung der Produktionen. 

Die Beraterfirma Deloitte rechnet damit, dass rund 150 Millionen Menschen 2022 ein Streamingabonnement kündigen werden. Die Ursachen seien vielfältig. Einerseits nehme die Fragmentierung zu, was dazu motiviere, sich kurzfristiger zu binden und Anbieter-Hopping zu betreiben. Andererseits sorge die wachsende Inflation dafür, dass die Bereitschaft der Menschen sinke, für Streamingplattform viel Geld auszugeben. Die Analysten sind sich einig, dass es in Zukunft zum Absterben einiger Anbieter kommen werde. Heute konkurrieren neben Plattformen wie Amazon Prime Video, Apple TV+ und Netflix auch noch die Dienste der Hollywood-Studios wie Disney+, Discovery, HBO Max, Paramount+ und Peacock miteinander. 

Die Coronakrise, so Deloitte, habe Streaminganbietern zwar ein immenses Wachstum beschert, doch nun würden sich die Menschen wieder verstärkt anderen Dingen zuwenden. Netflix spürt das rückläufige Wachstum bereits und enttäuschte damit auch die Aktionäre. Mittlerweile investieren mehrere Streaminganbieter teilweise 100 bis 200 Millionen US-Dollar in einzelne Filme oder Serien. Doch das wird sich wirtschaftlich laut Marktbeobachter am Ende nicht dauerhaft für die Mehrheit der Plattformen auszahlen. Die Träumerei hat ein Ende und mit ihr das oft beschworene goldene Zeitalter der anscheinend sorgenfreien Streamingdienste. Nicht nur Netflix wird von der Realität eingeholt und muss sich von Hunderten Mitarbeitern trennen sowie die Programmstrategie anpassen, auch HBO Max reduziert seine globalen Ambitionen. Das Überangebot von Plattformen und Inhalten haben einen vorläufigen Sättigungsgrad erreicht. Die Streamingdienste entdecken zudem zunehmend die Werbung für sich. Die jüngste Kehrtwende von Netflix, vor dem Hintergrund stagnierender Abo-Verkäufe ein werbefinanziertes Angebot zu starten, zeigt, dass alle Prognosen in diesem Bereich von kurzer Lebensdauer sind. Selbst Amazon hat mit Freevee einen werbefinanzierten Dienst gegründet.  

Auch unter deutschen Produzenten ist die Euphorie einer sachlichen Beurteilung gewichen. So sagte Constantin-Vorstandschef Martin Moszkowicz der Online-Plattform DWDL: »Wir alle machen gute Umsätze mit den Streamern, aber wir alle verdienen daran zu wenig, weil das Geschäftsmodell für Produzenten nicht margenstark genug ist.« Angesichts der jüngsten Einschnitte und Reduzierungen bei Netflix und HBO Max, denen mutmaßlich weitere folgen werden, konstatiert Moszkowicz: »Die Goldgräberzeit im Streaming ist vorbei, aber das sehe ich eher als positive Entwicklung. Denn jetzt kommt es auf das an, worin wir ohnehin stark sind – kommerzielle Qualität mit besonderen Programmen, die bei den Zuschauern ankommen, und nicht nur Volumen um jeden Preis.« Streaming hat die Art und Weise, wie wir Bewegtbilder konsumieren, verändert und spielt inzwischen eine wichtige Rolle in unserer Freizeit. Es wird weiterwachsen, aber nicht im bisherigen Tempo. 

US-Studios setzen wieder auf Kinopremieren 

Das sah vor einem Jahr noch ganz anders aus »If the stream works, the dream works« – so war ein Panel der Consumer Electronics Show in Las Vegas 2021, der größten Fachmesse für Unterhaltungselektronik überschrieben und sollte vom Siegeszug des Streamings gegenüber dem Kino und dem klassischen Fernsehen künden. Nicht mehr diese Medien sollten die Traumwelten schaffen, sondern die Streamingplattformen, deren Nutzung seit Monaten stetig stieg. Es war fraglich, ob Blockbuster wie die »Marvel«-Reihe und »Star Wars« noch weiterhin zuerst den Weg in die Kinos finden könnten. Disneys 200 Millionen US-Dollar teurer Spielfilm-Remake des Trickfilmklassikers »Mulan«, ursprünglich für das Kino bestimmt, war ab September 2020 on Demand verfügbar. Zu einem Extra-Preisvon rund 25 Euro bleibt der Film über das rebellische Mädchen Hua Mulan so lange in der Bibliothek abrufbar, wie der Kunde ein Abo beim Streamingdienst besitzt. Nicht nur in den USA, sondern weltweit können Disney+-Kunden den Film sehen. Wie man hört, durchaus finanziell erfolgreich. Weitere Streamingpremieren hatte das Studio deshalb nicht ausgeschlossen. Auch andere Studios wie Paramount oder WarnerMedia kreierten Online-Premieren und liebäugelten damit, ihrer Plattform künftig den Vorrang vor dem Kino zu geben. Doch im August dieses Jahres änderte die neue Führung des fusionierten Medienkonzerns Warner Bros. Discovery seine Strategie: Dem Kino soll wieder der Vorrang gehören. Da Warner einen Umsatzrückgang im 2. Quartal dieses Jahres um drei Prozent im Vergleich zum Vorjahresquartal hinnehmen musste und einen Netto-Verlust von 3,4 Milliarden US-Dollar auswies, wurde das bisherige Streamingkonzept aufgegeben. Warner wollte seinen Abo-Dienstes HBO Max schnell ausbauen und weltweit präsent sein. Dafür sollten große Filme nicht zuerst ins Kino kommen, sondern den eigenen Streamingdienst aufwerten. Doch dieses Modell verspricht weniger Gewinn als das bewährte Auswertungssystem mit verschiedenen Stufen – vom Kino über Einzelabrufe bis zu Subscription-Video-on-Demand (SVoD), Pay-TV und Free-TV. Warner Bros. Discovery setzt auch weiterhin auf Erstveröffentlichungen im Kino.  

Diese Veränderungen verschaffen den Kinobetreibern ein wenig Luft, bei der Anpassung ihrer Häuser und Angebote an eine veränderte Medienlandschaft. Mehr noch als von der Coronapandemie müssen sie die Besucher vom Mehrwert eines Kinobesuchs überzeugen. Die US-Blockbuster werden damit wohl auch künftig keinen Bogen um die Filmtheater machen. Doch das allein wird nicht ausreichen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2022.