»Der Nahostkonflikt wird im Plenum gelöst«. Unter diesem – zugegeben etwas ironischen Titel – habe ich im Frühling 2019 einen Diskussionsabend in der Bildungsstätte Anne Frank organisiert. Zu meiner Überraschung wurde die kleine Veranstaltung zum Skandal. Die »Jerusalem Post« warnte vor unserer vermeintlich antiisraelischen Pro-BDS-Veranstaltung, da zu den geladenen Podiumsgästen auch der Journalist Daniel Bax zählte, den der »Jerusalem Post«-Autor als »Israelhasser« beschrieb und mit dem Neonazi Udo Voigt und »Irans Mullah-Regime« verglich. Schnell schlossen sich weitere Organisationen der Kritik an – von dem Verein »I Like Israel« in Frankfurt bis zum Simon Wiesenthal Center in Los Angeles, das sogar noch eins drauflegte: Es forderte die Bildungsstätte auf, den Namen Anne Frank aus ihrem Namen zu streichen. Schließlich erhielt ich eine E-Mail vom damaligen Bürgermeister der Stadt Frankfurt mit der eindringlichen Forderung, Daniel Bax auszuladen. Die Begründung: Bax sei »BDS-Anhänger«. Nachdem der Bürgermeister keinen einzigen Beleg für diesen Vorwurf vorlegen konnte, fand unsere Veranstaltung wie geplant und ohne Zwischenfälle statt. Die Bildungsstätte Anne Frank musste sich in der Folge auch nicht umbenennen. Dennoch zeigt diese Anekdote, wie schnell Veranstaltungen und Veranstalter unter Druck geraten können, wenn sie Anknüpfungspunkte zur Debatte um die antiisraelische Bewegung BDS – »Boykott, Desinvestment und Sanktionen« – bieten.

Rund einen Monat nach unserer Veranstaltung beschloss der Bundestag eine fraktionsübergreifende Resolution mit dem Titel »Der BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten – Antisemitismus bekämpfen«. Diese Resolution ist zwar nicht rechtsverbindlich, bezieht aber klar Position: Die »Argumentationsmuster und Methoden« der BDS-Kampagne seien – so heißt es dort – antisemitisch.

In der Wissenschaft fällt das Urteil über die Bewegung deutlich differenzierter aus. Nach der Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus vom Juni 2020 sind beispielsweise Boykott, Desinvestition und Sanktionen »gängige, gewaltfreie Formen des politischen Protests gegen Staaten. Im Falle Israels sind sie nicht per se antisemitisch«.

Würde man heute eine Umfrage machen, käme vermutlich immer noch heraus, dass die meisten Deutschen noch nichts von BDS gehört haben. Die Anzahl der engagierten BDS-Unterstützer hierzulande bleibt klein, grob geschätzt sind es einige Hundert. Der tatsächliche Einfluss der deutschen BDS-Bewegung auf die israelische Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur ist daher gering. Aber zumindest der hiesige Kulturbetrieb scheint für BDS-Aufrufe besonders empfänglich zu sein. In die Schlagzeilen geschafft haben es z. B. die wiederholten Boykottaufrufe gegen das Berliner Pop-Kultur-Festival. Gegner der Bewegung versuchten zudem zu verhindern, dass BDS-nahe Künstler in populären Musikclubs wie dem Berliner »://about blank«, dem Leipziger »Conne Island« oder dem Hamburger »Golden Pudel Club« auftreten. Und nach diversen Skandalen, die sich an öffentlichen Veranstaltungen entzündeten, beteiligen sich zumindest im Kultur- und Wissenschaftsbetrieb auch hierzulande immer mehr Menschen an der Debatte um BDS – die Beispiele reichen vom Streit um die Ausladungsforderung des antiisraelischen Philosophen Achille Mbembe als Eröffnungsredner der Ruhrtriennale im Jahr 2020 bis zur documenta-Debatte von 2022. Die Schriftstellerin Eva Menasse spottete jüngst in einem Spiegel-Gastbeitrag sogar, die Buchstabenkombi BDS hätte in Deutschland inzwischen einen ähnlichen »Schockerfaktor« wie die Kürzel »RAF« oder »IS«.

In dieser so emotional geführten Debatte wird nur selten gefragt, was genau die BDS-Bewegung überhaupt ist. »Boykott, Desinvestment und Sanktionen« sind die drei wesentlichen Strategien und Forderungen des Netzwerks, das 2005 von verschiedenen palästinensischen NGOs gegründet wurde. Seitdem ist es zu einer weltweiten antiisraelischen Kampagne angewachsen.

Die Anfänge dieser Bewegung reichen zurück bis zur UN-Konferenz gegen Rassismus 2001 im südafrikanischen Durban. In der Abschlusserklärung ihres NGO-Forums wurde Israel als »rassistischer Apartheidstaat« angeprangert und eine »internationale Anti-Israel-Apartheidbewegung« ausgerufen. In den folgenden Jahren gab es weltweit – insbesondere in England und den USA – Versuche, Boykotte gegen kulturelle und akademische Institutionen in Israel zu verhängen. Die Kampagne hat in ihrem 2005 veröffentlichten Aufruf drei Forderungen aufgestellt: (1) Die Besetzung und Kolonisation allen arabischen Landes muss beendet und die Mauer abgerissen werden. (2) Israel muss die grundlegenden Rechte seiner palästinensischen Bürger anerkennen, sodass sie vollständige Gleichheit erlangen. (3) Es hat die Rechte der palästinensischen Flüchtlinge anzuerkennen, nach Hause zurückzukehren und auf ihren Besitz. Diese Formulierungen wurden sehr unterschiedlich interpretiert. Bedeutet die erste Forderung beispielsweise, dass ganz Israel arabisches Land ist und deswegen von der Landkarte verschwinden soll? Oder sind mit arabischem Land nur die Gebiete gemeint, die 1967 von Israel erobert wurden?

BDS ist kein Verein und keine Organisation, bei der man Mitglied werden könnte. In zahlreichen Ländern und Städten gibt es lose Netzwerke und Gruppierungen, die in erster Linie Internetseiten, Facebook-Accounts und Twitter-Profile pflegen und darüber in verschiedenen Sprachen die BDS-Thesen verbreiten. Durch diese zahlreichen lokalen Verankerungen kann BDS schnell auf aktuelle Diskussionen vor Ort reagieren. Eine einheitliche Linie entsteht so allerdings nicht. BDS-Unterstützer agieren in England anders als in Deutschland, an der Humboldt-Universität anders als in Berkeley. Die Folge: Wird jemandem »Nähe zu BDS« nachgesagt, ist völlig offen, was genau damit gemeint ist. Wer selbst erklärt, BDS zu »unterstützen«, signalisiert damit Sympathie für bestimmte Ideen, Weltbilder und ein politisches Programm. Viele möchten vor allem ihre Solidarität mit Palästinensern ausdrücken, ohne tatsächlich an Demonstrationen mitzuwirken. Es bleibt also viel Spielraum für individuelle Interpretationen.

Nicht zu verschweigen ist, dass die BDS-Kampagne weltweit auf Antisemiten anziehend wirkt – und einige der bekanntesten Gesichter der Bewegung schöpfen für ihre Statements und Aktionen tief aus dem Giftbrunnen des Judenhasses. Das bekannteste Beispiel ist Roger Waters. Der Sänger, Bassist und Songschreiber von Pink Floyd wirbt auf seinen Konzerten regelmäßig für BDS-Ziele und setzt Künstlerkollegen öffentlich unter Druck, nicht in Israel aufzutreten. In Interviews recycelt er antisemitische Feindbilder: Die Palästinenser würden behandelt wie Juden im Holocaust; oder: Die Israelis lögen wie Joseph Goebbels. Außerdem lässt er bei Konzerten oft einen Schweine-Ballon über dem Publikum schweben. Auf die Sau sind hassenswerte Dinge gemalt: Neben dem Dollarzeichen und Parolen tauchte dort früher oft ein Davidstern auf.

Die BDS-Bewegung scheut nicht einmal davor zurück, israelische Friedensaktivisten zu bekämpfen, indem sie diese von internationalen Konferenzen ausschließen lässt. Dass diese Praxis linke, um Ausgleich bemühte Kräfte in Israel schwächt, ist nachrangig. Das bittere Ergebnis: Nicht der Siedlungsbau, sondern vor allem Friedens- und Dialogprojekte in Israel und Palästina werden durch den Boykott gestoppt. Zwar betonen viele BDS-Wortführer, dass sich alle Aktionen nur gegen den militärisch starken Staat Israel richten – aber angegangen werden in der Regel Einzelpersonen und zivile Einrichtungen. Diese müssen sich bedingungslos zu den Zielen der BDS-Kampagne bekennen, ansonsten trifft sie der Boykott-Bannstrahl.

So ist festzustellen, dass sowohl die BDS-Kampagne als auch ihre Gegner in ihren Methoden auf ähnliche Art und Weise agieren. Beiden Lagern geht es darum, Deutungshoheit über den Diskurs zu gewinnen und ihre politischen Ziele zu erreichen, indem sie Vertreter der Gegenposition aus der Öffentlichkeit verbannen. Beide Lager üben moralischen Druck auf die Politik und den Kulturbetrieb aus: Wer sich nicht vehement für BDS einsetzt, dem wird vorgeworfen, sich mit israelischen Menschenrechtsverletzungen gemein zu machen. Und wer sich nicht vehement gegen die BDS-Bewegung einsetzt, dem wird vorgehalten, mit Antisemiten gemeinsame Sache zu machen.

So bleibt in der öffentlichen Diskussion kaum Platz für Differenzierungen und individuelle Meinungen. Wer sich zu Wort meldet, wird zur Solidarität mit der einen oder anderen Seite verpflichtet. Zu kurz kommt in der aktuellen deutschen Debatte zudem die Frage, was Israelis und Palästinenser Richtung Frieden bewegen könnte.

Die Skandale von der Mbembe-Debatte bis zur documenta fifteen zeigen, dass die BDS-Debatte längst den deutschen Kulturbetrieb in Geiselhaft genommen hat. Beide Lager instrumentalisieren Veranstaltungen als Bühne für ihre politische Agenda. Solange aber in Deutschland beide Seiten den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern nur als Projektionsfläche nutzen, um ihre eigene moralische Überlegenheit zur Schau zu stellen, ist der nächste Skandal schon programmiert.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2023.