Russland führt einen brutalen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine. Städte mit einer Millionenbevölkerung werden flächendeckend bombardiert. Betroffen sind nicht nur Menschen und Sachwerte, betroffen sind durch die Bombardierungen auch Kulturwerte und Kunstwerke. Es handelt sich nicht um eine perfide Strategie, wie wir sie etwa aus der Kriegspraxis des Zweiten Weltkrieges durch den unglaublichen Zivilisationsbruch der Nationalsozialisten und die sich anschließende einseitige Inanspruchnahme der Sowjetunion von Kulturgut als Reparationsleistung kennen, es ist einfach das gewollte Ergebnis von chaotischen Militärschlägen, die unterschiedslos zerstören. Zusätzlich finden wahllos Plünderungen statt, bei denen Soldaten sich aus den Museen mit Kunstwerken bedienen. Diese Kriegspraxis der massiven Zerstörung, die auch die Auslöschung des kollektiven Gedächtnisses zum Ziel hat, ist eine krasse Missachtung des geltenden Völkerrechts, formuliert in der Haager Landkriegsordnung von 1907. Es ist in diesem Zusammenhang interessant, dass in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen Kunstraub und gezielte Vernichtung Anklagepunkte waren. Die nationalsozialistischen Angeklagten sind in Nürnberg verurteilt worden, übrigens mit Beteiligung russischer Richter.
Das ukrainische Ministerium für Kultur und Informationspolitik und die UNESCO sammeln die Meldungen von Schäden an Kulturgütern, inzwischen sind knapp 400 zerstörte Kultureinrichtungen registriert, davon allein 137 religiöse Stätten, 12 Museen, 26 historische Gebäude, 16 Gebäude mit aktuellen kulturellen Aktivitäten, 15 Denkmäler und 7 Bibliotheken. Im Osten der Ukraine seien schon mehr als tausend Objekte zerstört. In einem kürzlich veröffentlichten Bericht des Conflict Culture Research Network, begründet von dem amerikanischen Anthropologen Brian Daniels, werden die Kulturzerstörungen per Satellit dokumentiert. Er kommt zu noch höheren Zahlen. Versuche, die Kulturgüter mit Sandsäcken oder durch eine Holzverschalung zu schützen, haben nur einen symbolischen Wert. Die Kultur in Gebäuden, Denkmälern und Objekten ist der Vernichtung preisgegeben. Es ist nicht auszuschließen, dass bei der zunehmenden Totalität des Krieges gezielt weitere symbolträchtige Architektur ins Visier gerät. Sie stehen für die Identität der Ukraine mit ihrer heutigen Gesellschaftsform. Das ist erschreckend, besonders wenn man diese mutwillige Zerstörung vor dem Hintergrund der gemeinsamen russischen und ukrainischen Wurzeln sieht und Russland vom Brudervolk spricht. Dieser Zynismus ist kaum zu überbieten. Es ist eine Taktik der verbrannten Erde. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj formulierte es kürzlich so: »Die Besatzer haben Kultur, Bildung und Menschlichkeit als ihre Feinde identifiziert.«
Der Angriffskrieg, den Deutschland 1941 gegen die Sowjetunion begann, hatte einen gewissen zeitlichen Vorlauf. Dadurch konnten die Sowjets einen Teil ihrer Sammlungen in den östlichen Teil der Sowjetunion evakuieren. Aber es blieben die westlichen Teile, insbesondere die Region um Leningrad und Nowgorod. Der Schutz der Kulturgüter ist der Ukraine bei dem jetzigen Angriffskrieg verwehrt. Nur sehr wenige Museen wurden evakuiert. Niemand hätte sich eine solche barbarische Entwicklung vorstellen können. Derzeit versucht man, die Kunstobjekte so gut wie möglich in den Kellern zu lagern, gesichert zu verpacken. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter leben und schlafen in den Kellern. Aber es fehlt hier am Nötigsten. Verpackungsmaterial, Brandschutzmittel, Feuerlöscher. Es gibt spontan gebildete Netzwerke von Museen in Deutschland, die sich engagieren. Claudia Roth, Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, hat zusammen mit dem Auswärtigen Amt das Netzwerk Kulturgutschutz Ukraine ins Leben gerufen. Sie hat sich bei ihrem Besuch am 6. und 7. Juni 2022 in Odessa dafür ausgesprochen, die Nominierung der Altstadt Odessas als Welterbe-Stadt zu unterstützen, um dadurch einen zusätzlichen Schutzschild vor russischen Angriffen zu haben. Sie sieht durch den Krieg die kulturelle Identität der Ukraine bedroht. Mit dem blau-weißen Blue-Shield Siegel der UNESCO, mit dem nach der Haager Konvention zu schützende Gebäude in kriegerischen Auseinandersetzungen gekennzeichnet werden, werden international zu schützende Gebäude klassifiziert. Ihre Zerstörung kann als Kriegsverbrechen geahndet werden. Ein solches Urteil ist erstmals 2016 durch den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gegen ein Mitglied der islamistischen Terrororganisation »Ansar Dine« ergangen.
Das Bundeskabinett hat einen Ergänzungshaushalt beschlossen. Darin sind rund 20 Millionen Euro zur Unterstützung ukrainischer Kultur vorgesehen. Damit sollen bereits ergriffene Maßnahmen zum Schutz weiter ausgebaut werden. Eine weitere Initiative betrifft die Rettung der Digitaldaten von Kulturgütern. Das betrifft besonders Informationen zu Kulturgütern und Archivmaterialien. Hier liegen bereits große Datenmengen vor, die möglichst rasch als ausgelagerte Dateien überspielt werden sollten. Es werden aber zusätzlich weitere Archivbestände digitalisiert.
Gezielte Zerstörung von Kulturgut und Beutekunst ist leider trotz des gewachsenen Bewusstseins für das Unrecht weiterhin ein hochaktuelles Thema als ständig neue Gefährdung, nicht nur bei der Ukraine. Bei den Kriegen in Afghanistan, im Irak, in Syrien, in Kambodscha und anderswo ist immer wieder die kulturelle Substanz in Gefahr, zerstört oder verschleppt zu werden.
Man wusste, dass damit die Niederlage des Feindes als tiefer emotionaler Verlust gesteigert werden konnte. Die völkerrechtliche Ächtung von Zerstörung oder Raub von Kulturgut ist ein hoher Wert für die Völkergemeinschaft. Völkerrecht ist aber immer nur so wirksam, wie es die Staaten als gewollte Anwendung anerkennen und durchsetzen. Es geht nicht um das Prinzip recht zu haben, es geht um ein über die Jahrhunderte erstrittenes Grundrecht, das zwar immer wieder gefährdet wird, für dessen Erhalt aber immer wieder Position bezogen werden muss.
Es ist deshalb wichtig, dass die materielle Hilfe und die Unterstützung mit Waffen für die Ukraine auch die Anklage des Aggressors im Sinn des geltenden Völkerrechts konsequent verfolgt.