Wie in einer Nussschale konzentriert sich die lange Geschichte Makedoniens im Norden Griechenlands in der Stadt Thessaloniki. Zahlreiche Zeugnisse aus römischer, byzantinischer und osmanischer Zeit sind erhalten. Seit 1988 gehören sie zum Weltkulturerbe der UNESCO. 1997 war die Stadt Europäische Kulturhauptstadt. Bekannt als die Heimat Alexander des Großen lag und liegt die Region im Schnittpunkt wichtiger jahrtausendalter nordsüdlicher und westöstlicher Verkehrswege. Heute prägt die Metropolregion Thessaloniki mit knapp einer Million Einwohner diesen geschichtsträchtigen Teil Griechenlands als moderne europäische Stadt. Sie ist das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum und weist eine enorme kulturelle Vielfalt auf. In der römischen Zeit war sie eine der Kaiserresidenzen, Cicero lebte zeitweise hier, Paulus begründete die zweite namentlich genannte Christengemeinde Europas. Es folgte die byzantinische Zeit ab 560. In seinen Glanzzeiten war Thessaloniki zweitwichtigste Stadt neben der Hauptstadt Konstantinopel. Zahlreiche Bauten zeugen noch heute von dieser glanzvollen Epoche. Im 15. Jahrhundert wurde die Region Teil des Osmanischen Reiches und Thessaloniki wichtigstes Handelszentrum des Balkans. Ende des 19. Jahrhunderts nahm Thessaloniki einen enormen Aufschwung. Die Eisenbahn verband die Stadt über Belgrad mit dem nördlichen Europa und andererseits mit Istanbul. Der 1881 in Thessaloniki geborene Kemal Atatürk wurde zum Gründer der modernen Türkei, die in diesem Jahr ihr hundertjähriges Bestehen feiert. Bis zu den Balkankriegen blieb die Stadt unter osmanischer Herrschaft. Es folgten kriegerische Auseinandersetzungen, an dessen Ende 1913 Makedonien zu Griechenland kam.

Schon in römischer Zeit hatte Thessaloniki eine jüdische Bevölkerung. Sie zählte vor dem Zweiten Weltkrieg 56.000 Menschen und machte etwa ein Viertel der Bevölkerung aus. Unter der Naziherrschaft wurde praktisch die gesamte jüdische Bevölkerung nach Auschwitz und Bergen-Belsen deportiert und ausgelöscht. Die Stadt war während des Zweiten Weltkriegs von 1941 bis 1944 von deutschen Truppen besetzt. Mehr als 100.000 griechische Zivilisten starben während des Zweiten Weltkrieges. Die Verbrechen der SS und der Wehrmacht in Griechenland spielen im Bewusstsein der Deutschen bis heute kaum eine Rolle, die Geschichtswissenschaft beginnt erst jetzt mit einer Aufarbeitung. Ein eindrucksvoller Ansatz zur schmerzhaften Erfahrung des Erinnerns ist die Ausstellung »Gespaltene Erinnerungen«, ein beispielhaftes Projekt von Goethe-Institut, Jüdischem Museum Thessaloniki, Makedonischem Museum für Zeitgenössische Kunst Thessaloniki und dem Historischen Museum Berlin. Sie wurde 2016/2017 in Thessaloniki gezeigt, anschließend in einer digitalen Form in Köln. Der deutsch-griechische Zukunftsfonds finanzierte das Ausstellungsprojekt. Es geht um die Annäherung an dieses bedrückende Kapitel der deutsch-griechischen Geschichte mit der Sprache der Kunst. Bei der Ausstellungseröffnung 2016 in Thessaloniki sagte der griechische Außenminister Nikos Kotzias: »Geschichte ist kein Gefängnis, Geschichte muss Schule sein.« Und der damalige deutsche Außenminister, Frank-Walter Steinmeier, ergänzte: »Griechen und Deutsche begegnen sich anders, wenn sie das im Bewusstsein ihrer gemeinsamen Geschichte tun. Wenn sie ein Sensorium entwickeln für die wunden Punkte und die blinden Flecken der Vergangenheit.« In der Ausstellung geht es nicht einfach um die Historie als Faktensammlung, sondern sie stellt eine Verbindung her zwischen Kunst und Leben. Solche Initiativen zeigen, wie wichtig die Zusammenarbeit für die Kultur bei der Stärkung der griechisch-deutschen Beziehungen ist. Es ist ein Beitrag auf dem Weg hin zu einer gemeinsamen europäischen Erinnerungskultur. Anlässlich der Eröffnung der 18. Internationalen Buchmesse in Thessaloniki im Jahr 2021 – mit Deutschland als Ehrengast – betonte die damalige Staatsministerin Michelle Müntefering bei ihrer Eröffnungsrede: »Gerade gegenüber unseren europäischen Nachbarn empfinden wir besondere Verantwortung, aber auch die aktuellen Debatten in Griechenland zeigen, dass die gemeinsame Aufarbeitung nicht abgeschlossen ist.«

Erst nach Ende des griechischen Bürgerkriegs begann 1949 der Wiederaufbau der Stadt und Wirtschaft und Kultur. Aber die deutsche Besatzungszeit hatte Griechenland massiv geschwächt. 1960 schlossen Griechenland und die Bundesrepublik Deutschland ein Anwerbeabkommen für Arbeitskräfte, die sogenannten Gastarbeiter. Die meisten Gastarbeiter kamen aus Nordgriechenland. 13 Jahre lang wanderte fast eine ganze Generation aus. Am Ende waren es über eine Million Arbeitsemigranten. Den Griechen gelang es, sich gut in die deutsche Gesellschaft einzufügen. Heute leben mehr als 300.000 Griechen in Deutschland. Und auch die Rückkehrer haben in Nordgriechenland weitgehend ein positives Deutschlandbild mitgebracht. Inzwischen entwickelte sich das traditionell als Auswanderungsland bekannte Land zum Zielland für Arbeitsmigranten und zu einem Transitland für Asylsuchende. Die Stadt ist ein attraktiver kultureller und touristischer Hotspot geworden, insbesondere für junge Menschen. Wirtschaftlich spielen Thessaloniki und Nordgriechenland eine immer wichtigere Rolle, mit einer starken Bindung an Deutschland. In den letzten Jahren haben sich mehr als 200 deutsche Unternehmen niedergelassen sowie 50 griechische Firmen, die ausschließlich mit dem deutschen Markt kooperieren. Als größter Hafen in der Region und einer der wichtigsten Knotenpunkte auf dem Balkan spielt Thessaloniki in den letzten Jahren verstärkt eine Schlüsselrolle in der Wirtschaft und Logistik. In Nordgriechenland studieren fast 350.000 junge Menschen an Universitäten. Das gibt der Region ihren besonderen Charakter.

Als entscheidender Partner und kreativer Initiator im Kulturleben der Stadt gilt seit Jahrzehnten das Goethe-Institut. 1955 gegründet, wird es längst als »Thessaloniker Einrichtung« empfunden, gut vernetzt mit der Stadtverwaltung, der Präfektur, den Museen, Theatern, Universitäten, Schulen, der jüdischen Gemeinde, weiteren europäischen Kulturinstituten, Künstlern und Kulturakteuren. Wegen seiner hohen Wertschätzung ist es besonders auch in kritischen Zeiten ein Frei- und Dialograum für die aktuellen Fragen der Gegenwart – Finanz- und Wirtschaftskrise, Flüchtlingsströme aus Afrika und dem Nahen Osten, aktive Beteiligung an Stadtplanung, Entwicklung zivilgesellschaftlicher Strukturen, Chancen der Kreativwirtschaft usw. Dabei hat das Institut verstanden, solche Projekte in eine europäische Struktur einzubinden und damit die Region wieder stärker von der Peripherie ins Zentrum zu rücken. Über 3,5 Millionen Euro konnten allein in den letzten Jahren zur Förderung von Kulturprojekten eingeworben werden. In ihrer Kernaufgabe, der Vermittlung der deutschen Sprache, gehört das Goethe-Institut Thessaloniki zu den führenden Einrichtungen. Es belegt weltweit den dritten Platz bei Prüfungen.

Thessaloniki hat tiefgreifende Umbrüche verarbeiten müssen, die die Stadt und die Gesellschaft nachhaltig verändert haben. In einer Stadt, die ihr kreatives Potenzial zu nutzen sucht, sich über den engen lokalen Rahmen öffnet und positive Veränderungen ermöglicht, nimmt das Goethe-Institut nur allzu gern diese Ansätze auf. Als jetzt bekannt wurde, dass auch das Goethe-Institut Thessaloniki im Zusammenhang mit Etatkürzungen geschlossen werden sollte, war das Entsetzen groß, und es kam zu engagierten Interventionen. Es wäre nicht nur eine Leerstelle entstanden, das fein gesponnene kulturelle Netz wäre insgesamt zerrissen worden. Die ursprüngliche Entscheidung zur Schließung wurde inzwischen aufgehoben. Es ist zu hoffen, dass bei den Verhandlungen eine tragfähige Lösung zustande kommt und damit dem Institut und der Kulturszene in Nordgriechenland eine Zukunft gegeben wird. Das 70-jährige Jubiläum im Jahr 2025 kann dann mit Dankbarkeit und Zuversicht gefeiert werden.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2023-1/2024.