Georgien ist ein Land an der Nahtstelle oder Bruchstelle von Orient und Okzident, ein Land mit einer reichen und langen Geschichte. Das antike Königreich Kolchis auf dem Gebiet des heutigen Georgiens war so bekannt wie Korinth oder Delphi. Schon im frühen Mittelalter bekannte sich Georgien zum Christentum. Die Einheit Georgiens wurde befestigt durch die Künste, insbesondere Malerei, Musik, Literatur und Architektur. Wechselnde Machteinflüsse konnten bis in die Moderne Georgiens kulturelle Eigenständigkeit nicht zerstören. Erst unter der Herrschaft der Sowjetunion im 20. Jahrhundert wurden Georgiens Kultur massiv unterdrückt, Künstler verfolgt und Institutionen zerstört. Mit dem Zerfall der Sowjetunion und der Unabhängigkeit Georgiens 1991 setzte dann eine kulturelle Wiedererweckung ein.

Seit zwei Jahrzehnten lebt Georgien nun mit virulenten Konflikten, aber die Fortschritte zur Bildung einer selbstbewussten Zivilgesellschaft sind sichtbar. Georgien ist ein Land, in dem die Träume und die Albträume mehr als anderswo unvermittelt in die Wirklichkeit übertreten. Ein solches einschneidendes Ereignis war die Ablösung von Präsident Schewardnadse durch Saakaschwili. Er gehörte zu den Wortführern der Rosenrevolution und wurde 2004 mit überwältigender Mehrheit zum Präsidenten gewählt, ein bis zur Manie energischer, intelligenter, widersprüchlicher, politisch hochbegabter Mann, der über die Jahre seiner Herrschaft immer erratischer, egozentrischer und autoritärer wurde. Saakaschwili hatte den verwegenen und inspirierenden Traum, Georgien weg von Russland in die Europäische Union zu führen, in die NATO, in die politische, kulturelle und ökonomische Moderne. Korruption und Kriminalität ließ er energisch verfolgen, es bildete sich eine neue Elite. Was er zu Beginn an Gutem erreichte, riss er am Ende durch seinen unkontrollierten Cäsarenwahn wieder ein, bis hin zu einem Waffengang gegen Russland 2008, zu dem er sich auf eine sehr geschickte Provokation von Putin verführen ließ und bei dem Georgien durch den Verlust von Abchasien und Südossetien 20 Prozent seines Staatsgebietes verlor. 2012 verlor seine Partei die parlamentarische Mehrheit an das Parteienbündnis Georgischer Traum mit dem Oppositionsführer Bidsina Iwanischwili.

Zwar ist Georgien heute weitgehend ein gefestigter Staat. Aber der Oligarch Iwanischwili mit einer einzigartigen Wirtschaftsmacht übt mit von ihm abhängigen Ministern, Abgeordneten und Anwälten eine tiefgreifende Kontrolle aus. Er brachte den russischen Führungsstil wieder nach Georgien. Er selbst übt kein offizielles politisches Amt aus, aber sein Einfluss ist prägend und völlig intransparent. Es ist ein Einfluss weg von Europa und hin zu Russland. Iwanischwili und seine Gefolgsleute haben das in den letzten Jahren geschickt in kleinen Schritten vollzogen. Die Medien sind weitgehend unter der Kontrolle der Regierung. Kulturelle Institutionen wie Museen und Literatureinrichtungen, das Filmzentrum und die Kunstakademie arbeiten unter einer strengen Zensur. Dagegen konnten sich die Festivals für Film und Theater noch weitgehend selbst organisieren. Der Theaterbereich erlebte Ende der 1990er Jahre Neugründungen, die finanziell sehr gut ausgestattet waren und in Konkurrenz zu den traditionellen Einrichtungen standen. Aus heutiger Sicht wird klar, dass im Hintergrund Iwanischwili als »unsichtbarer Mäzen« wirkte und mit seinen Millionen Häuser, Regisseure und Schauspieler »kaufte«. Es gibt aber noch gute und jüngere Regisseure, etwa beim Royal Distrikt Theater, die progressiv und erfolgreich arbeiten.

Das Kulturministerium ging in den letzten Jahren besonders hart gegen die Mitarbeiter der Museen vor. Das dort tätige Personal wurde durch willfährige Vertreter ausgewechselt, Fachverbände wie z. B. der Museumsverband, wurden faktisch aufgelöst. Im Bereich der zeitgenössischen Kunst wird der direkte Einfluss des Kulturministeriums inzwischen auch spürbar, etwa bei Galerien auf der Rustaveli oder bei Einrichtungen in der Altstadt. Hier bildete sich aber ein dynamisches Gegengewicht in Lofts und Fabriken, getragen von jungen Leuten. Es ist eine Clubszene, die sich in den letzten zehn Jahren einen besonderen Namen gemacht hat, auch als zivilgesellschaftliche Kraft. Im Filmbereich wurden im letzten Jahr im Filmzentrum bei der Auswahl der zu finanzierenden Filmprojekte kurzerhand alle Jurymitglieder abgesetzt. Auch der Leiter des Filmzentrums musste gehen – mit absurden Anschuldigungen. Widerstand gibt es gegen Architekturgroßprojekte, die das Stadtbild durch Mammutprojekte völlig verunstalten würden, etwa in der Altstadt oder im Wake-Park. Dagegen begehren immer wieder Menschen in Demonstrationen auf. Ein großer Erfolg für die georgische Literatur war der Gastlandauftritt Georgiens auf der Frankfurter Buchmesse 2018. Dazu muss man wissen, dass das Konzept noch von dem Team in der Zeit von Saakaschwili stammte, beginnend 2011 und nur unter Mühen unter den veränderten politischen Bedingungen aufrechterhalten werden konnte. Zugleich wird damit auch daran erinnert, dass inzwischen eine Reihe von Schriftstellern im Exil lebt.

Was aber jetzt in Georgien passierte mit dem Versuch, ein Gesetz zu beschließen, das Medien und zivilgesellschaftliche Organisationen, die Fördermittel westlicher Länder erhalten, als »ausländische Agenten« einstuft, ist nicht die Veränderung in kleinen Schritten, es ist ein Paukenschlag. Es ist der Versuch, kritische bzw. freie Stimmen aus der öffentlichen Wahrnehmung zu verdrängen. Das ist eine verhängnisvolle Entwicklung, die die Zivilgesellschaft massiv bedroht. Es ist die Kopie des gleichlautenden Gesetzes, das in Russland bereits zur Anwendung gekommen ist und zu Verhaftungen und Schließungen geführt hat, wie beispielsweise bei Memorial. Zehntausende Menschen demonstrierten tagelang auf den Straßen von Tiflis. Der Kern der Protestierenden ist von den Kunst- und Kulturschaffenden im mittleren Alter ausgegangen. Der Funke ist aber schnell auf die junge Generation übergesprungen und hat dann auch die »schweigende Mehrheit« erfasst. Besonders die jungen Menschen haben erkannt, dass es um den Verlust ihrer Zukunft geht, um ein selbstbestimmtes Leben, um Rechtsstaatlichkeit und um den Verlust der Freiheit. Hier zeigt sich, dass die Zivilgesellschaft in den letzten zwanzig Jahren an Wehrhaftigkeit gewonnen hat. Die Regierung hat sich zunächst dem öffentlichen Druck gebeugt. Das Parlament hat in einer Sondersitzung das Gesetz über »ausländische Einflussagenten« abgelehnt. Das ist nicht aus politischer Überzeugung erfolgt, sondern aus taktischen Überlegungen. Man befürchtete wohl einen »Flächenbrand«. Postwendend kam aus Russland die Interpretation, es sei ein vom Westen gesteuerter Vorgang, und die Drohung, man werde nicht wie 2008 nur Teile Georgiens besetzen, sondern gleich auf Tiflis zielen. In jedem Fall bedarf es auch künftig konzentrierter Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Der Weg nach Europa ist aber durch den erfolgreichen zivilgesellschaftlichen Aufschrei noch nicht gesichert. Es bedarf einer entsprechenden Transparenz und Rechtsstaatlichkeit in den Regierungsstrukturen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2023.