So manche Apfelbäume quer durch die Stadt stehen schon, haben ausgeschlagen und blühen. Die Jungbäume sind frisch gepflanzt. Ob und wie viel Obst einmal wächst, wird sich zeigen. Aber vor allem im übertragenen Sinne sollen hier Früchte gedeihen. Menschen sollen sich begegnen, gemeinsam Bäume pflanzen, Patenschaften übernehmen und für die Zukunft ein Teil des ökologischen Bewusstseins der Stadtgesellschaft werden. So jedenfalls sieht es »We parapom!« vor. Die große Parade der Apfelbäume ist das Flagship-Projekt der Kulturhauptstadt Europas Chemnitz 2025, und einerseits ist es Kunstprojekt, bei dem von Kuratorin Barbara Holub betreute internationale Künstlerinnen und Künstler zu Hörspaziergängen und Installationen einladen, andererseits ist »We parapom!« ein breit angelegtes Beteiligungsformat für die Bürgerinnen und Bürger vor Ort, die per Patenschaften für die Bäume sorgen. Der »Erfolg« hängt maßgeblich davon ab, wie viele Chemnitzerinnen und Chemnitzer mitmachen und wie viel Engagement sie reinstecken. Bislang läuft es okay: weder rauschender Ansturm noch nüchterne Flaute. Nach drei Pflanzaktionen sind etwas über 500 Bäume eingesetzt. Allerdings sollen es 4.000 werden! »Wir haben gemerkt, dass es lange braucht, bis die Leute Zugang zum Projekt finden«, sagt Stefan Schmidtke, einer von zwei Geschäftsführenden der Kulturhauptstadt Europas Chemnitz 2025 GmbH, zuständig für das Programm. Momentan akquiriert ein Fünf-Personen-Team Apfelbaumpatinnen und -paten. Da heißt es ranhalten. Es sind noch 20 Monate, bis das Kulturhauptstadtjahr startet.

So wie bei »We parapom!« laufen viele der Vorbereitungen zur Kulturhauptstadt gerade eher im Hintergrund. Das ist wohl typisch für den momentanen Stand der Dinge. »Die anfängliche euphorische Phase nach der Titelvergabe ist abgeklungen«, sagt Christoph Dittrich, Generalintendant der Theater Chemnitz: »Jetzt ist man in der Schaffensphase, die Ideen umzusetzen.« Zu Jahresbeginn machte in der Stadt einige Kritik an der Programmplanung die Runde. Es gehe zu langsam voran, und die Kommunikation sei intransparent. Dittrich kann das nicht bestätigen, gibt aber zu bedenken, dass er in seiner Wahrnehmung »befangen« sein könnte. Er war vor Jahren Mitinitiator, dass Chemnitz Kulturhauptstadt wird; er war Teil verschiedener Lenkungsgremien und bis vor Kurzem Gründungsgeschäftsführer der Kulturhauptstadt GmbH. Weil es in diesen Monaten gerade an die praktische Umsetzung der Ideen gehe, quasi ans Teamwork im Hintergrund, sei vieles in der öffentlichen Wahrnehmung momentan nicht richtig sichtbar. Das merke Dittrich auch bei den Kulturhauptstadtprojekten, bei denen die Theater Chemnitz involviert seien. Unter anderem machen sie beim partizipativen Theaterprojekt »7 Gemeinden« mit, das die Geschichte der europäischen Bergbauregionen und der Industrialisierung aus der Perspektive einzelner Dörfer in Sachsen und Böhmen nacherzählen will. Deutsche und tschechische Laienschauspielerinnen und -schauspieler, Musikerinnen und Musiker, Bergbaukapellen und weitere Kreative werden mit professionellen Theaterleuten zusammenarbeiten und mehrere Aufführungen in den Kommunen und eine große Open-Air-Vorstellung geben. Angedacht ist auch eine App, die grenz- und sprachübergreifend eine digitale Lernumgebung anbietet, damit die Kooperationen gelingen. So jedenfalls ist das Ganze in dem sogenannten Bidbook – Bewerbungsbuch – formuliert, mit dem sich Chemnitz bei der Jury beworben hatte. Die Umsetzung läuft auch hier momentan »hinter den Kulissen«.

Vorrangig sollen dieses Jahr die Projekte, die das Umland betreffen, forciert werden. Der »Purple Path« z. B. soll als Kunstpfad 38 Städte miteinander verbinden und Arbeiten sowohl von Künstlerinnen und Künstlern der Region als auch von internationalen Kunstschaffenden vorstellen. Ähnlich wie bei den Apfelbäumen sieht man auch hier schon erste Ergebnisse, denn letztes Jahr wurden bereits die Skulptur »Stack« von Tony Cragg, die Rauminstallation »Glance« von Tanja Rochelmeyer und weitere Werke enthüllt. Die Reaktionen sind auch hier so weit okay: Es wird weder gemeckert, noch wird himmelhoch gelobt, was sich in Sachen Kulturhauptstadt so tut. Bereits laufende Veranstaltungen, die beispielsweise zu den Beteiligungsprojekten einladen oder auch Podiumsdiskussionen wie jene »zur aktuellen Realität rechter Gewalt in unserer Stadt« werden gut angenommen.

Insgesamt zeichnet sich das Bild ab, dass Chemnitz und seine Kulturschaffenden in puncto 2025 zuversichtlich sind. »Wir haben das Gefühl, dass das Team der Kulturhauptstadt einiges versucht in Bewegung zu setzen und auch die Chemnitzer:innen mit einbezieht«, sagt etwa Isabelle Weh vom Chemnitzer Fritz Theater. Die freie Bühne mit festem Ensemble freut sich schon sehr auf das bunte, europäische Jahr in Chemnitz. Das in der Rechtsform einer GbR agierende Theater ist mit dem eigenen Spielbetrieb vollauf ausgelastet, sodass die Theatermacherinnen und -macher nur wenige Details der Planungen mitbekommen. »Wir profitieren jedoch von spontanen Projektförderungen, die ausgeschrieben werden«, so Isabelle Weh.

Dass sich »Spontanes« ergibt und dass neue Mitstreiterinnen und Mitstreiter involviert werden, an die bei der ursprünglichen Idee noch gar nicht gedacht war, gehört wohl zum ganz normalen Planungsprozess einer Kulturhauptstadt dazu. »Umgekehrt wird nicht alles, was vor Monaten ins Bewerbungsbuch geschrieben wurde, auch tatsächlich umgesetzt werden können«, sagt Stefan Schmidtke. Die Projektideen müssten auf ihre Machbarkeit geprüft werden. In regelmäßigen Abständen findet ein Monitoring statt, das die Vorhaben nach gegebenen EU-Standards abklopft, z. B. ob denn bei den jeweiligen Projekten auch der Europabezug ausreichend ist und stimmt.

Unter dem englischen Wortspiel »C the Unseen« möchte Chemnitz 2025 verborgene Kulturschätze seiner Stadt und neue Kulturzusammenhänge sichtbar machen. Man will einerseits weg vom Image einer in die Jahre gekommenen Arbeiterstadt mit Rechtsradikalen, andererseits will man zeigen, dass man mit Kultur in die Zukunft geht. »Die Erwartungen sind sehr groß«, ist Frédéric Bußmann, Generaldirektor der Kunstsammlungen Chemnitz, überzeugt. Auch die Kunstsammlungen Chemnitz sind 2025 mit mehreren Projekten beteiligt, wobei Bußmann selbst, der viele davon mit begleitet hat, zum Kulturhauptstadtjahr gar nicht mehr in Chemnitz sein wird. Er wechselt diesen Sommer als Direktor zur Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe. Bei allem Verständnis für seine spannende neue Aufgabe in Baden-Württemberg lässt der Wechsel aber natürlich einen nüchternen Beigeschmack zurück: Gerade jetzt, wo es in Chemnitz so spannend wird, verlässt ein Generaldirektor die Stadt. Aber seis drum, auch bei der Kulturhauptstadt Europas gilt wohl business as usual. Dabei hat Frédéric Bußmann spannende Vorhaben angebahnt. Bereits Ende 2024 werden die Kunstsammlungen Chemnitz zu ihren bestehenden vier Standorten ein neues fünftes Haus erhalten für die Sammlungen zu Karl Schmidt-Rottluff. Der expressionistische Maler verbrachte Kindheit und Jugend in Chemnitz, wo er wie auch seine späteren Freunde der Künstlergruppe Brücke Ernst Ludwig Kirchner und Erich Heckel zur Schule ging. Ob Chemnitz damit so etwas wie eine Urkeimzelle für die Künstlergruppe war, wird ein erstes Ausstellungsprojekt erkunden. Derzeit wird das Schmidt-Rotluff-Haus noch saniert, später nach 2025 wird es dann Teil der Chemnitzer Museumslandschaft sein. Aus Bußmanns Sicht kommen die Projektplanungen derzeit gut voran, und er ist im guten Glauben, dass das gut organisierte Museumsteam auch mal eine Zeit ohne Direktor auskommen kann. 2025 sieht er als große Chance. »Der Titel Europäische Kulturhauptstadt ist für Chemnitz ja auch eine Bestätigung, dass die Stadt großes Potenzial hat«, sagt Frédéric Bußmann. Und tatsächlich sind die vielen Europa-Kultur-Projekte in Chemnitz weitestgehend auf Nachhaltigkeit angelegt, dass sie nach Ablauf des großen Festjahres dann weiter Früchte tragen.

So wie hoffentlich die eingangs erwähnten Apfelbäume. Sollten hierfür in den nächsten Monaten nicht ausreichend Paten gefunden werden, hat Stefan Schmidtke einen Plan B: »Notfalls werden wir auch 2025 und 2026 noch pflanzen.« Kulturhauptstadt darf nicht verwechselt werden mit Kunst- oder Festival-Hauptstadt. Es geht um die breite, gesellschaftliche, städtische Entwicklung. Und die braucht mitunter Zeit, die sich nicht wirklich planen lässt.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/2023.