Italien, das Gastland der diesjährigen Buchmesse, ist mir, was bei einem Deutschen nicht überrascht, zur zweiten Heimat geworden. Seit mehr als drei Jahrzehnten fahre ich, wann immer es die Zeit erlaubt, in ein kleines Bergdorf in den ligurischen Seealpen. An klaren Tagen kann man bis nach Cannes blicken. Und am Horizont liegt als feiner Strich die Küste von Korsika.
Der Ort hat schon bessere Zeiten gesehen, aber meine Nachbarn haben sich damit abgefunden, dass die Jüngeren wegziehen und die Älteren die mühsame Plackerei in den Olivenhainen oft nicht mehr bewältigen können. Die heißen Monate sind vorbei, die Sonne steht tief, und man ahnt schon die kommende Jahreszeit, in der das Dorf in eine Art Winterstarre verfällt.
Noch lässt es sich draußen sitzen und der Blick fällt wie immer hinunter ins Tal, wo eines der schönsten Dörfer der Gegend liegt. Den alten Eselspfad bin ich schon lange nicht mehr gewandert. Er führt an einem Gedenkstein vorbei, an dem zuweilen ein altes Marmeladenglas mit ein paar Blumen steht. Selbst die Erinnerung ist in dieser Bergwelt mühsam geworden. Der Stein erzählt von einem Jungen, der bei Kriegsende im Kugelhagel getötet wurde. Ich hatte meinen Nachbarn nach ihm befragt. Er kannte ihn. Sie haben dieselbe Schule besucht. Als er vor den deutschen Soldaten, die das Dorf damals besetzt hielten, fliehen wollte, haben sie auf den Jungen geschossen. »Come un coniglio«, wie einen Hasen haben sie ihn abgeknallt, als er zu entkommen versuchte. Dort unten, sagte mein Nachbar nach längerem Schweigen, dort unten begann damals das Partisanengebiet. Schlagartig verblassten die Farben der Landschaft. Unsere düstere Vergangenheit hatte sich sepiafarben darübergelegt. Wo er denn so gut Deutsch gelernt habe, wollte ich von meinem Nachbarn wissen. Das, sagte er lächelnd, habt ihr Deutschen mir in Buchenwald beigebracht. Dann gab er mir zum Abschied die Hand. Ich habe ihm lange nachgesehen, als er die Gasse hinunter ging mit seinem alten, dicken Hund Kira. Er ist inzwischen schon ein paar Jahre tot, aber sein Hund streunte noch eine Zeitlang alleine herum. Ich bin heimisch geworden in diesem Dorf. Aber zu Hause? Zu Hause bin ich dort nicht.
Man hört jetzt viel von alten Geschichten. Ortsnamen wie Marzabotto graben sich in unser kollektives Gedächtnis ein. Die deutschen Massaker in Italien während der letzten Kriegsjahre sind lange Zeit eine Leerstelle in unserer Erinnerungswelt geblieben. Die Italiener sprechen von einer »memoria divisa«, der getrennten Erinnerung. Die Massaker in Italien gegen Ende des Krieges kosteten nahezu 70.000 Menschenleben. Mehr als 10.000 von ihnen wurden bei Massenhinrichtungen ermordet. Inzwischen haben Opfer wie Täter ihre Gesichter zurückbekommen. Die lange getrennten Erinnerungslandschaften wachsen zusammen.
Und gleichzeitig wird Italien von Frau Meloni regiert. Wie passt das zusammen? Man liest von ihrer harten Asylpolitik. Aber vor Ort erscheint manches anders. Die Souvenir- und Blumenverkäufer am Strand gehören seit Jahrzehnten zum alltäglichen Bild. Im Winter tragen sie Baumaterial hoch in die Berge. Den schrillen Ton in der deutschen Debatte vermisse ich nicht.
Es ist jetzt ohnehin die Zeit, in der man die dickeren Jacken anzieht. Die Strände sind leer. Auf einer Bank sitzt einer dieser vom Schicksal an Land gespülten Menschen und zeigt mir auf dem Handy das Bild seiner Kinder. Sie winken und sind doch weit weg. Unser beider Italienischkenntnisse reichen für eine vertiefte Konversation nicht aus. Wir verabschieden uns als Fremde in einem für uns nicht mehr so fremden Land.
Ich mache mir oft Gedanken, warum ich Italien für viel gelassener halte als meine eigene Heimat. Wo doch alle immer durcheinanderschreien und hupen und man bei Tisch mit der ganzen Familie gleichzeitig reden kann. Die italienische Gesellschaft ist in vielerlei Hinsicht durchlässiger geworden; und doch besitzt sie einen erstaunlich robusten Kern. Das ist mir in meinem Dorf wieder aufgefallen, als plötzlich der Geldsegen aus der fernen Verwaltung kam. Dieser stille Ort in den Bergen sollte in einen Hotspot der Astronomiegeschichte verwandelt werden. Weil zwei der großen europäischen Astronomendynastien von dort herstammten. Viele Jahrzehnte reichte dem Dorf eine bescheidene Marmortafel mit goldenen Buchstaben, um der berühmten Söhne des Ortes, der Cassinis und Maraldis, zu gedenken. Heute studiert eine der Töchter des Ortes als ferne Nachfahrin in Paris erfolgreich Astrophysik.
Aber dann wollte man das Dorf wohl mit europäischen Fördermitteln aufhübschen. Seine Bedeutung für die Geschichte der Astronomie sollte endlich weithin sichtbar werden. Überall in den Gassen wurden Sternzeichen und Himmelsbahnen angebracht; steile Gestänge aus Eisen markierten die Meridiane. Doch die fremdartigen Applikationen gingen schnell ins tägliche Leben ein. Wer ein Stück Metall brauchte, sägte es sich einfach ab. Oder man band die Hunde an die Gestänge.
Der Spuk wäre wohl längst verschwunden gewesen, wenn nicht das Dorf seine kollektive Erinnerung in die eigenen Hände genommen hätte. Man beauftragte zwei Künstlerinnen aus der Ukraine, die in den Ort gekommen waren, und gab ihnen freie Kost und Logis. Die beiden Frauen bemalten die Häuserwände mit historischen Motiven. Bald entstand in den Gassen eine zugige Galerie. So erzählt der Ort seine Geschichte jetzt selbst. Es ist ein beeindruckendes Dokument des kulturellen Selbstbehauptungswillens geworden.
Die Wahrnehmung solch feiner Unterschiede vermisse ich oft, wenn von Italien in Deutschland die Rede ist. Selbst auf der Buchmesse dominierten wieder die lauten Töne; es gab die erwartbaren Proteste und die offenen Briefe. Und das Urteil stand schon von vornherein fest. Die mediale Öffentlichkeit hat sich das Gastland Italien zurechtgelegt und glaubt allen Ernstes, es zu verstehen. Aber wir haben darüber eines verlernt. Wir haben verlernt über ein anderes Land noch zu staunen. Ach Europa, hat Hans Magnus Enzensberger schon vor langer Zeit geseufzt. Man sollte seine Betrachtungen von den europäischen Rändern her von Zeit zu Zeit lesen.