Trotz Krieg in der Ukraine findet das internationale Lyrikfestival Meridian in Czernowitz nahe der rumänischen Grenze statt. Tanja Dückers spricht mit Evgenia Lopata, die bisher in der westukrainischen Stadt geblieben ist und das Literaturfestival seit 2013 leitet.  

Tanja Dückers: Vielen Dank, dass Sie sich Zeit genommen haben in diesen furchtbaren Wochen.  

Evgenia Lopata: Haben Sie keine Angst, wenn plötzlich auf meinem Handy die Sirene zu hören ist. Falls es Luftalarm gibt, wird es sehr laut. Ich habe das schon gestern Abend erlebt, aber dann hat meine Gesprächspartnerin einen ukrainischen Bunker gesehen, das war für sie interessant. 

Es gab schon einen Angriff bei Ihnen in der Nähe? 

Genau. Czernowitz, wo ich lebe, liegt in der Nähe der rumänischen Grenze. Wir waren uns immer sicher, hier wird nicht geschossen, hier bleibt alles ruhig, weil wir gleich an der Grenze der EU sind. Hier sind die Rumänen, die werden reagieren. Und plötzlich verstehst du, dass wir hier 40 Kilometer vor der Grenze auch nicht in Sicherheit sind. Das macht uns natürlich viel Stress und auch den Leuten, die hierher fliehen in der Hoffnung, hier in Sicherheit zu sein. Aber die Stimmung der Menschen vor Ort ist eher positiv. Wir versuchen jetzt, die Industrie weiterzuentwickeln. Unsere Gouverneure haben die Unternehmen aus der Zentral- und Ostukraine nach Westen eingeladen, Unternehmen werden hierher evakuiert. Und viele Geflüchtete aus dem Osten suchen Arbeit. Das heißt, die Industrie könnte in der Westukraine wieder aufgebaut werden. Ich habe heute Morgen einen Artikel in Forbes gelesen: Wenn der Krieg so weiterläuft, dann werden im nächsten Jahr 90 Prozent der Ukrainer pleite gehen. Dieser Krieg führt uns auf den Stand des Jahres 2004 zurück. Die Wirtschaft, die soziale und wirtschaftliche Entwicklung – alles. 

Das ist bitter. 

18 Jahre gehen einfach verloren. Das ist unglaublich deprimierend. Wir haben auch berechnet, wie viel uns der Krieg bereits gekostet hat, das sind erschreckende Zahlen.  

Haben Sie das Ganze kommen sehen, weil Russland schon seit 2014 in der Ukraine Krieg führt? Haben Sie irgendwie erwartet, dass so etwas jetzt passiert?  

Wir haben definitiv erwartet, dass Putin die Aggression verstärken wird. Ich habe das zwei Wochen vor dem Krieg in verschiedenen Medien gesagt: Es wird bald eskalieren. Wir wussten, er macht etwas. Aber dass von allen Seiten angegriffen wird, war wirklich ein Schock. Was mich jedoch überrascht hat, war die Reaktion der Ukrainer in den östlichen Gebieten, die sich ganz nah zur russischen Grenze befinden. Oder auch in Odessa … Odessa ist eine überwiegend russischsprachige Stadt. Ich hatte Angst, dass die Leute im Osten sagen könnten: »Okay, vielleicht besser Frieden und unsere Städte werden nicht zerstört. Wir wollen das alles hier nicht verlieren.« Aber plötzlich sagten die Menschen dort: »Nein, das geht nicht.« Ich denke, es war sehr erstaunlich für die russischen Soldaten, dass sie, als sie dort in ihrer eigenen Sprache gehört haben: »Geht nach Hause, ihr seid hier nicht willkommen!« Wenn sie es auf Ukrainisch gehört hätten, wäre es das Eine, aber wenn sie plötzlich auf Russisch zu hören bekommen »Geht weg!«, ist das etwas ganz anderes.  

Das leuchtet ein. Stimmt Sie die Haltung der Ostukrainer optimistisch? 

Ich glaube wirklich nicht, dass Putin so weit in die Westukraine kommt. Aber selbst wenn, bin ich hundertprozentig sicher, dass jeder von uns eine Pistole oder ein Messer nimmt und einfach auf die Soldaten losgeht. Die Menschen in Cherson und Mariupol haben das so gemacht, wir werden es selbstverständlich auch tun. Wir würden lieber hier sterben, als irgendjemandem unser Territorium, unsere Städte und unsere Architektur und Kunst zu überlassen. Das ist völlig ausgeschlossen. Und wenn Putin kein Idiot ist …  Also, er ist schon ein Idiot …! Aber die Westukraine ist, so hoffe ich, für ihn ein bisschen tabu. Wobei, ich muss sagen, das alles sind nur meine Vermutungen.  

Haben Sie zu Russen Kontakt? 

Die, die ich kenne, wohnen im Ausland. Alle. Seit 2014 haben sie Russland verlassen, weil sie mit diesem Regime nicht einverstanden waren. Ich habe eine Freundin, eine russische Dichterin, die lebt seit einem Jahr in Kiew. Und ich habe viele Freunde aus Minsk, die in den letzten zwei Jahren nach Kiew umgezogen sind. Also diejenigen, mit denen wir gearbeitet haben, sind in die Ukraine gezogen oder nach Europa. Wir wollten seit den Erlebnissen von 2014 weniger Kooperationen mit Russland haben. Wir haben seitdem drei oder vier Poeten aus Russland bei uns auf dem Festival gehabt. Alle proukrainisch. 

Wie stellen Sie sich das Meridian-Festival dieses Jahr vor? Hatten Sie schon Pläne für den Herbst?  

Ja, wir hatten spannende Pläne, denn wir haben in den letzten Jahren einen sehr großen Wettbewerb gewonnen. Es gibt eine landesgeförderte ukrainische Kulturstiftung. Städte konnten sich bewerben, Buchhauptstadt der Ukraine zu werden. Ich habe dann mit viel Mühe diese Bewerbung gemacht, und wir, das heißt die Stadt Czernowitz haben diesen Wettbewerb gewonnen. Wir sollten eigentlich das ganze Jahr 2022 die Buchhauptstadt des Landes sein. Das ist ein wenig analog zur Kulturhauptstadt Europas. 

… ein Titel, der von der Europäischen Union an zwei Städte vergeben wird. 

Der Plan war, dass wir in der Ukraine anfangen, konkurrenzfähig werden und künftig wahrscheinlich auch an diesem EU-Wettbewerb teilnehmen könnten. Voraussetzung dafür ist, dass die Ukraine Beitrittskandidat der EU wird, was nun vielleicht geschieht. Ich war als Leiterin dieses Projektes angestellt. Es ist ein sehr kompliziertes aufwendiges Vorhaben, Buchhauptstadt des Landes zu sein: mit vielen Radio- und TV-Shows, mit dem Festival, das ich mache, also mit ganz vielen Auftritten, einem Lese-Programm für Kinder, alles rund um Bücher. 

Und das sollte eigentlich ganz viel kosten. Unsere Stadt, Czernowitz, war zum ersten Mal in der Geschichte bereit, Geld, und zwar 120.000 Euro, zu investieren. Und seitens der Regierung sollten es 250.000 Euro sein, unglaublich viel Geld für uns. Gestern habe ich die E-Mail bekommen, dass das ganze Budget dieser Stiftung jetzt für die Armee benutzt werden soll. Ich finde diese Entscheidung schwierig. Man muss doch auch sehen, welche Rolle die Kultur jetzt spielt: Es sind unglaubliche Menschen jetzt in die Westukraine gekommen und selbst in Czernowitz sind momentan mehr als 50.000 Geflüchtete …  

… bei 250.000 Einwohnerinnen und Einwohnern.  

Danke, genau. Die meisten sprechen kein Ukrainisch, sie haben wenig Ahnung von der Stadt, ihrer Geschichte. Und nun haben wir die ganze Finanzierung für das Kulturfestival auf einmal verloren. Wir überlegen, im Literaturzentrum Sprachkurse zu machen, etwas zur Literatur zu machen. Auch für die Kinder, die hierherkommen.  

Also Ukrainisch-Sprachkurse für die, die aus der Ostukraine kommen dann? 

Ja. Ich überlege, auch Deutschkurse anzubieten. Wir wollen diese bei uns im Zentrum kostenfrei für die Menschen durchführen, denn es ist wichtig, dass die Geflüchteten sich mal auf etwas anderes konzentrieren können. Unser Nachbar macht Kinderprogramme, jeden Tag verschiedene Seminare, Theaterstücke, Musiksachen. Und ich gehe manchmal vorbei und freue mich. 

Das ist toll. Es freut mich, dass Sie heute so voller Hoffnung von so vielen solidarischen Projekten erzählen können.  

Ich erlaube mir nicht, irgendwo zu schreiben oder zu posten: Es war blöd, dass die Regierung das Geld gestrichen hat. Denn, wenn ich sage, ihr könntet es doch der Buchhauptstadt lassen, dann sagen alle anderen: Ja, uns könnte man auch etwas geben. Wenn alles wegen des Krieges abgesagt wir, dann wird alles abgesagt. Da gibt es keine Ausnahmen. Damit bin ich einverstanden. Ich bin es schon gewohnt. Dass wir unser Festival selbst wegen Corona nicht abgesagt haben, gibt mir jetzt den Mut, dass wir auch dieses Jahr etwas auf die Beine stellen. Aber kleiner wird es nicht. 2021 hatten wir doppelt so viele Besucher wie vor der Pandemie.  

Ein toller Erfolg! Wie viele Gäste sind gekommen? 

9.000. Die Nachfrage ist sehr gestiegen. Ein anderer Punkt: Wir haben kostenlosen Eintritt. Das heißt, es spielt für uns finanziell im Prinzip keine Rolle, wie viele Leute im Saal sitzen, da wir mit dem Festival nichts verdienen. Wir freuen uns sehr, wenn viele Czernowitzer und Neuangekommene von unseren Events profitieren. Die Veranstaltungen sind ja sehr verschieden. Einige stellen ausländische Autoren, andere ukrainische in den Mittelpunkt. 

Wie geht es mit dem Meridian-Verlag weiter? Die Literatur braucht ja immer Zeit, um auf eine Situation zu reagieren, aber: Schreiben Ihre Schriftsteller über den Krieg? Manifestiert sich der Krieg jetzt schon in der Literatur? 

Viele Literaten, die von unserem Verlag vertreten werden, sind in einer Art Territorial-Schutztruppe des Landes oder auch in der Armee, z. B. Artem Tschech. Das sind militärische Gruppen, die die Grenzen der einzelnen Gebiete schützen. Und auch die Literatinnen aus unserem Verlag sind mehrheitlich im Land geblieben. 

Serhij Zhadan, der erstklassig ins Deutsche übersetzt und im März für den Nobelpreis nominiert wurde, ist auch Autor Ihres Hauses. 

Genau. Und er bleibt in Charkiw. Eine andere Autorin von uns, Kateryna Kalytko, kommt aus einer Stadt im Osten, die gerade bombardiert wird. Sie ist nun in einer Territorial-Schutztruppe. Sie trägt Waffen und postet gleichzeitig auf Facebook Gedichte, die sie im Angesicht des Krieges schreibt. Viele Bekannte und Freunde von mir aus Deutschland und aus Österreich schicken schöne Angebote für Stipendien und schreiben: Eure Schriftsteller können zu uns kommen. Ich schreibe zurück: Das Problem ist, die Männer dürfen nicht. Und die Frauen wollen nicht das Land
verlassen.  

Das mit den Männern weiß man ja jetzt eigentlich. 

Ja, Juri Andruchowytsch ist schon älter als 60, aber er will nicht ausreisen. Die Menschen bleiben. Das ist auch der Grund, warum ich hier bin. Auch weil viele Freunde aus unseren literarischen Kreisen aus Charkiw und Kiew bei diesen humanitären Lieferungen, die zur Hälfte aus Rumänien kommen, helfen wollen.  

Es kommt so viel Hilfe aus dem Nachbarland Rumänien? 

Oh ja, ich bewundere die Unterstützung von Polen und Rumänien. Ukrainisch und Polnisch sind verwandte Sprachen. Aber wir und die Rumänen: Wir haben in unserer zwölfjährigen Festivalgeschichte sehr wenige Projekte mit Rumänien gemacht, einfach, weil wir uns sehr stark von der Sprache und der Mentalität unterscheiden. Doch jetzt war ich mehrmals an der rumänischen Grenze. Die Rumänen dort verstehen kein einziges Wort Ukrainisch, aber sie verteilen einfach Wasser, Essen, Medikamente. Sie geben und geben und geben alles, was sie haben. Ich denke, das ist echte Nachbarschaft, dass dich deine Nachbarn, selbst wenn sie dich nicht verstehen, so unterstützen.  

Und nun versuchen die Leute aus der Ostukraine, dort mitzuhelfen? 

Genau, aber es müssen genug Leute, Ortskundige, in Czernowitz sein, diesem Drehkreuz, die die ganze Hilfe koordinieren und sich kümmern. Ganz viele Menschen flüchten aus dem Osten durch die Bukowina nach Rumänien und dann weiter. Und wir sind eigentlich in der Bukowina die Einzigen, die Kontakt zu den Rumänen haben. Viele meiner Nachbarn sind geflohen. Ich kann das verstehen, sie hatten Angst. Ich habe sie auch. Wenn ich nicht so in der humanitären, sprachlichen und kulturellen Hilfe tätig wäre, würde ich auch überlegen auszureisen, ehrlich. All diese Alarme mitten in der Nacht. Um drei Uhr in der Nacht stehst du auf und dann sitzt du vier Stunden im Bunker. Und das Schlimmste ist: Du weißt nicht, was passiert ist, ob und wo eine Bombe gefallen ist, wer gestorben ist und so. Ich hätte gerne das Land verlassen, aber ich sehe, man muss hier vor Ort ganz viel helfen.  

Vielen Dank, dass Sie sich so viel Zeit genommen haben. Hoffentlich haben Sie eine ruhige Nacht heute. Ohne Sirenen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 07-08/2022.