Im Projekt »Dekoloniale Erinnerungskultur in der Stadt« nimmt die Stiftung Stadtmuseum Berlin die Rolle des großen Bruders und zugleich stillen Partners ein. Wie das gelingen kann, schildert der Direktor Paul Spies im Gespräch mit Theresa Brüheim.
Theresa Brüheim: Seit Januar 2020 setzt sich das Kulturprojekt »Dekoloniale Erinnerungskultur in der Stadt« kritisch mit der Geschichte des Kolonialismus und dessen Folgen auseinander. Welche Rolle kommt dabei der Stiftung Stadtmuseum Berlin zu, Herr Spies?
Paul Spies: Eine zunehmende Rolle. Wir haben gemeinsam mit den drei zivilgesellschaftlichen Organisationen Berlin Postkolonial, Each One Teach One (EOTO) und der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD-Bund) einen Antrag für das Land Berlin und für die Kulturstiftung des Bundes vorbereitet. Daraus folgten dann drei Millionen Euro Unterstützung für fünf Jahre beginnend 2020. Dabei hat das Stadtmuseum kein Budget für sich selbst reserviert. Das Geld geht gänzlich an die Partnerinnen und Partner: Wir haben einen gemeinsamen Ausschuss, in dem die Leitungen der vier Organisationen sitzen. Gemeinsam entscheiden wir dort über Ausgaben, von denen die Mehrheit schon im Antrag festgelegt war. In der Stiftung Stadtmuseum Berlin ist auch die kaufmännische Leitung für »Dekoloniale«, Maike Pertschy, angesiedelt.
Wichtig ist dabei unsere Aufstellung und unsere Haltung: Wir nehmen diese zur Verfügung gestellten Fördermittel nur, um sie weiterzugeben, und übergeben dabei insbesondere auch die Deutungshoheit den genannten Partnerinnen und Partnern.
Neben dem Dekoloniale-Projekt arbeiten wir aktuell auch daran, uns als Stadtmuseum zu dekolonisieren. Ein Teil dieser Arbeit fließt in das Dekoloniale-Projekt. Das ist unser Beitrag als Stadtmuseum.
Die Hälfte der Projektlaufzeit ist bereits vorbei. Welche erste Bilanz können Sie ziehen?
Es ist viel entwickelt worden. Ich denke z.B. an das Dekoloniale Festival, das im September dieses Jahres stattfand und sehr gut besucht wurde. Viele Künstlerinnen, Experten und Spezialistinnen aus aller Welt haben dort ein Podium bekommen. Es waren beispielsweise »Artists in Residence« aus afrikanischen Ländern zu Gast, die Kunstwerke produziert und gezeigt haben. Es gab viele Podiumsdiskussionen und Künstlerinterviews. Das alles hat natürlich eine bestimmte öffentliche Wahrnehmung mit sich gebracht. Auf einmal sieht man, dass in der Öffentlichkeit mehr Aufmerksamkeit an den Inhalten besteht.
Deutlich wird auch, dass das Projekt, das gemeinsam vom Bund und Land finanziert ist, eine emanzipierende Wirkung für zivilgesellschaftliche Organisationen hat, die bislang mit minimalen Mitteln versucht haben, ihre Arbeit zu machen. Nun haben sie die Möglichkeit, zu organisieren, einzuladen und auch die Öffentlichkeit erfolgreich anzusprechen.
Es gibt natürlich auch einen wesentlichen inhaltlichen Gewinn, denn es wird viel im Rahmen von diesen Projekten untersucht und präsentiert. Es gibt zum einen den Austausch mit dem Publikum, das so umfänglich und besser informiert wird, und zum anderen eben den Fachaustausch zwischen den internationalen Expertinnen und Experten. Denn dank der Projektmittel können diese nun aus afrikanischen Ländern nach Deutschland eingeladen werden und hier ihre Arbeit vorstellen. So hat man die Möglichkeit, den Blick der von Kolonialisierung betroffenen Länder zu sehen. Das ist sehr, sehr wichtig. Es geht um die gemeinsame Geschichte – die kann man nicht alleine aufarbeiten. Die Perspektiven der Länder, die kolonisiert worden sind, und insbesondere ihrer Wissenschaftlerinnen und Künstler, sind unerlässlich. Wir gehen davon aus, dass wir alles wissen – aber wir müssen erst mal zuhören! Und da nicht alle Berlinerinnen und Berliner nach Afrika reisen können, laden wir diese Expertinnen und Experten hierher ein.
Ein weiteres Beispiel und klares Produkt von »Dekoloniale« ist die neue Fassung der Ausstellung »Zurückgeschaut« im Bezirksmuseum Treptow-Köpenick. Sie wurde verbessert und vergrößert. Frisch eröffnet hat die Ausstellung »TROTZ ALLEM: Migration in die Kolonialmetropole Berlin« im FHXB Friedrichshain-Kreuzberg Museum – auch ein Partner im Dekoloniale-Projekt.
Es gibt also Öffentlichkeit, Austausch und Projekte, die hoffentlich der Anfang einer Bewegung sind. Dafür brauchen die Partner aber auch eine gewisse Offenheit, um überhaupt jemandem zu erlauben, mit einem anderen Blick in die Organisation, in das Museum, in die Sammlung zu schauen. Das ist ziemlich neu, aber gleichzeitig wird es auch gut angenommen. Ich glaube, dass »Dekoloniale« ein leichter Eingang sein kann, um zu dekolonisieren. Es kann für Kulturinstitutionen wie Museen schwierig sein, sich für eine Person oder zivilgesellschaftliche Organisation zu öffnen. Aber beim Dekoloniale-Projektverband, wo mit dem Stadtmuseum ja auch ein Museum als Projektpartner dabei ist, haben viele Häuser eher das Gefühl, dass offen und auf Augenhöhe gesprochen werden kann.
Welche Ziele wollen Sie bis Ende des Projektes noch verwirklichen?
Für das Stadtmuseum wäre es wichtig, dass wir die Zusammenarbeit in einem gemeinsamen Produkt präsentieren können. Wir haben mit »Dekoloniale« unter anderem schon Sichtungen der Sammlung des Stadtmuseums durchgeführt. Ich denke, es wäre interessant – eventuell in einem Handbuch, einem Symposium, einer Webseite oder Ähnlichem – zu zeigen, wie ein Museum in der Praxis mit zivilgesellschaftlichen und aktivistischen Organisationen zusammenarbeitet. Darin könnte auch die angesprochene Haltung zentral sein: Wir treten als Stadtmuseum einen Schritt zurück und lassen die Expertinnen und Experten zum Thema Dekolonialisierung sprechen. Aber wir könnten auch Hinweise zur Zusammenarbeit an andere Organisationen weitergeben.
Ich glaube, dass das wichtigste Resultat ist, dass wir bis heute ohne Streit zusammengearbeitet haben. Und dass die zivilgesellschaftlichen Organisationen sich sicher und nicht kontrolliert oder beeinflusst fühlen – weder von der Politik noch vom »großen Bruder«, dem Stadtmuseum. Wir konnten bisher in guter Zusammenarbeit immer wieder Entscheidungen treffen. Das Stadtmuseum befindet sich dabei in einem Lernprozess. Wir sagen als Institution: »Wir wissen nichts. Ihr sagt uns, was ihr aus eurem Blick feststellt. Und wir werden nicht defensiv antworten. Wir werden offen versuchen, zu verstehen, warum solche Sachen gesagt werden, weil sie oft die Wahrheit sagen.« Wir treten also in den Hintergrund und ermöglichen so Entwicklungen, ohne Dominanz zu zeigen. Eine solche atmosphärische Zusammenarbeit und Haltung ermöglicht es vielen kleineren, aktivistischen Organisationen, Mittel zu erhalten. Denn oft werden Projektmittel an gesetzte Organisationen vergeben und nicht an neue kleine Player. Aber auf diese Art und Weise, wie wir es bei »Dekoloniale« machen, können große Organisationen Geld an kleinere weiterleiten. Dieses Weiterleiten muss man auf die richtige Art und Weise machen.
Haben Sie in der Akademie der Künste die Präsentation des Künstlers Moses März während der Berlin Bien-nale gesehen?
Nein.
März zeichnet Mindmaps, die z. B. die Geschichte von Kolonialismus und Restitution erzählen. Ein Pfeil geht beispielsweise zum Humboldt Forum, ein anderer zu Aktivistinnen und Aktivisten. Und an einer Stelle steht auch das Projekt »Dekoloniale«. Das zweigt sich wiederum auf in Berlin Postkolonial, EOTO und ISD-BUND. Und wo ist das Stadtmuseum? Nicht eingezeichnet. Ich habe März freundlich gefragt: »Herr März, wie ist das jetzt? Ich bin der Direktor vom Stadtmuseum. Wussten Sie, dass das Stadtmuseum Teil ist vom Dekoloniale-Projekt?« Und er sagt: »Nein.« Und ich frage: »Hat das einen Hintergrund?« Er: »Einziger Hintergrund ist Ignoranz.«
Ein altmodischer Museumsdirektor könnte sich beschweren und klagen, dass die eigene Institution vergessen wurde. Aber in diesem Fall war es zweimal »Bingo«. Wir werden erstens nicht als dominante Organisation wahrgenommen. Also haben wir erreicht, was wir wollten: Wir ermöglichen und greifen nicht nach dem Podium. Zweitens werden wir auch nicht negativ beim Thema Kolonialismus und Dekolonialisierung wahrgenommen.
Wollen Sie dieses Wissen und diese Haltung nun auch an andere Museen weitergeben?
Ja, natürlich, vor allem Bescheidenheit möchten wir weitergeben. Das Stadtmuseum ist offen zu lernen. Ich bin alt genug, um zu wissen, dass wir in Zukunft Museen anders aufstellen müssen.
Wie müssen die Museen der Zukunft aufgestellt werden?
Viel partizipativer! Natürlich kann ich nur für Geschichtsmuseen sprechen. Aber in der Regel werden Museen bisher als Top-down-Bildungsinstitute wahrgenommen: Die Wissenschaftlerinnen, die Kuratoren etc. erzählen und das Publikum hört zu. Bei einem jungen Publikum funktioniert das gar nicht mehr. Wir versuchen hier stets, Dinge anders zu machen, sodass die jungen Besucherinnen und Besucher gleich mitmachen können und direkt angesprochen werden. Wenn Museen sich nicht für mehr Partizipation öffnen, werden viele nicht überleben. Eine öffentliche Einrichtung wie ein Stadtmuseum muss diejenigen, die bestimmte Themen betreffen, einladen und für sich selbst sprechen lassen: Don’t talk about them, let them speak for themselves! »Dekoloniale« ist ein Beispiel dafür. Ich bin davon überzeugt, dass das Museum gewinnt, wenn es etwas überlässt.
Zu Beginn erwähnten Sie auch, dass Sie daran arbeiten, das Stadtmuseum zu dekolonialisieren.
Erst mal müssen wir auch aufpassen mit dem Begriff »Dekolonisierung«: Das Wort wird immer kritischer betrachtet. Das Aneignen des Wortes »Dekolonisieren« von weißen Instituten ist eigentlich problematisch. Man eignet sich damit eine sogenannte »Token-Politik« an –insbesondere, wenn man das nur behauptet, aber keine Handlungen folgen. Das vorab.
Wir »dekolonisieren« die Sammlung nicht im klassischen Sinn, denn wir haben keine Objekte, die aus kolonialen Kontexten ins Stadtmuseum gelangt sind. Wir haben aber sehr wohl Bilder und Abbildungen, die Kolonialisierung darstellen z. B. rassistische Reklame. Es gibt natürlich auch Informationen über sogenannte »koloniale Erfolge« in Handel und Industrie. Wenn man tiefer geht, könnte man auch im Stadtmuseum geraubte Materialien finden. Die Grundstoffe vieler Objekte, z. B. Möbel, kommen aus Afrika oder Asien. Das Material wurde hierhergebracht, ohne eine anständige Summe dafür zu bezahlen. Daraus sind dann beispielsweise Buffetschränke aus Holz mit Eisenbeschlag entstanden. Darüber sprechen wir auch mit »Dekoloniale« und anderen Beraterinnen und Beratern.
Außerdem sind wir dabei, die »Dekolonialisierung« des Stadtmuseums im weiteren Sinne zu denken. Die Geschichte muss weiter aufgearbeitet werden, die Organisation sollte auch im Hinblick auf Hierarchien und Haltungen betrachtet werden. Das sind wichtige Aspekte für uns.
Vielen Dank.