Ein anderthalbjähriges Provenienz-Forschungsprojekt am Jüdischen Museum Westfalen schloss Wissenslücken und konnte mehrere Restitutionen verzeichnen. Manche Information ist aber auf immer verloren. Das Jüdische Museum Westfalen entstand als Resultat einer Bürgerinitiative in Dorsten, einer Stadt zwischen Ruhrgebiet und Münsterland. Eine Geschichtswerkstatt erforschte dort in den 1980er Jahren die Stadtgeschichte während der NS-Zeit sowie die Geschichte der jüdischen Bevölkerung der Stadt von ihren Anfängen bis zur Shoah. 1992 wurde das Jüdische Museum Westfalen eröffnet, in dem diese westfälisch-jüdische Geschichte ausgestellt werden sollte, wo Besucherinnen und Besucher aber auch etwas übers Judentum, über religiöse und kulturelle Traditionen, lernen konnten. Im Bemühen um Anschauungsmaterial kaufte der Trägerverein Judaica und Bücher auf dem Antiquitätenmarkt, anderes erhielt es als Schenkungen Privater.

Nach heutigem Wissensstand hätte man bei der Akquise genauer hinschauen müssen. Nicht nur wurden wohl einige Fälschungen erworben, es wurden auch Gegenstände erstanden, von denen heute befürchtet werden muss, dass sie ihren jüdischen Besitzerinnen und Besitzern zwischen 1933 und 1945 geraubt oder abgepresst worden waren. Weil diese Vermutung im Raum stand, bewarb sich das Jüdische Museum Westfalen 2019 beim Deutschen Zentrum Kulturgutverluste um Förderung für ein wissenschaftliches Forschungsprojekt.

Dieses wurde gewährt, und Sebastian Braun, heute wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Bergischen Universität in Wuppertal, befasste sich von Juni 2020 bis November 2021 intensiv mit der Provenienz von rituellen Gegenständen wie Synagogenlampen, Synagogentextilien z. B. Thoramantel und Thoraabdeckung, Alltagsgegenständen sowie Büchern und Zeitschriften. Eine große Herausforderung war, dass zahlreiche dieser Objekte Massenware sind. Sie enthalten weder Inschriften noch sonstige Hinweise zu ihren vormaligen Besitzerinnen oder Besitzern und oft noch nicht einmal zur Produktionsstätte. Die Auktionshäuser, bei denen einige dieser Dinge erstanden worden waren, waren bei der Spurensuche nach Vorbesitzern zudem wenig hilfreich.
Sebastian Braun entwickelte deshalb eine Methode bestehend aus Objektautopsie, Archivrecherche, Familienforschung und Bildanalyse. Dass inzwischen viel Information im Internet und in elektronischen Datenbanken zur Verfügung steht, hat seine Arbeit erleichtert, dass Forschungsreisen zu Archiven während der Pandemie zum Teil unmöglich waren, hat anderes erschwert. Hilfreich waren die Kontakte zu Kolleginnen in anderen jüdischen Museen in Europa und auch die Gespräche im Team.

Das Projekt war in mehrfacher Hinsicht ein Erfolg: Sebastian Braun konnte das bestehende Wissen zur Beschaffenheit und zum Verwendungszweck einzelner Objekte vertiefen. Er fand auch Informationen zu einigen Vorbesitzern, eine lückenlose Historie konnte aber oftmals nicht rekonstruiert werden. So im Fall eines Synagogentextils, das vermutlich zur Abdeckung der Thorarolle verwendet wurde. Die in Metallfäden gestickte hebräische Inschrift bezeugt, dass Leah Rachel Kestenbaum 1925 das Textil einer Synagoge gestiftet hatte, welcher, ist unbekannt. Weitere Recherchen ergaben, dass diese Familie bis 1933 in Leipzig wohnte und später über Paris und London nach New York emigrierte. Wir wissen, dass die Abdeckung von den Nationalsozialisten entwendet worden sein muss, denn sie tauchte nach 1945 im Offenbach Archival Depot auf, wo die Amerikaner NS-Raubgut zwischenlagerten. Denkbar ist, dass sie in der Pogromnacht aus der Synagoge entwendet worden war. Was danach bis zum Erwerb des Textils durch das Museum damit geschah, ist unbekannt. Die Familie Kestenbaum und die Jüdische Gemeinde Leipzig sind informiert über diese Recherchen, haben aber keinen Anspruch auf das Textil erhoben.

Befriedigend war, dass das Museum als Resultat des Projektes mehrere Restitutionen von Büchern vornehmen durfte. Besonders berührend war die Restitution eines Gebetbuches. Eine Inschrift identifizierte es als ehemaligen Besitz von Hermann Schlome (1857-1942), einem Holzhändler aus Janowitz, in der ehemaligen preußischen Provinz Posen. Ab 1933 wohnten er und seine Frau bei ihrer Tochter in Berlin. Hermann Schlome wurde 1942 mit seiner Frau und weiteren Verwandten nach Theresienstadt deportiert. Wie sein Gebetbuch viele Jahrzehnte später im antiquarischen Buchhandel endete, wissen wir nicht. Sebastian Braun konnte aber eine seiner Enkelinnen, Susanne Schlome, verheiratete Woodin, ausfindig machen. Neunjährig konnte sie gemeinsam mit ihrem Cousin mit einem Kindertransport nach Großbritannien fliehen, wo sie heute noch lebt. Im Oktober 2020 konnte der über 90-jährigen Frau das Gebetbuch ihres Großvaters überreicht werden.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2023-1/2024.