Karina Urbachs intensiv recherchierter Bericht »Das Buch Alice. Wie die Nazis das Kochbuch meiner Großmutter raubten«, 2020 erschienen und unter anderem ins Englische, Italienische, Litauische und Niederländische übersetzt, hat in der Öffentlichkeit zu Recht große und anhaltende Aufmerksamkeit erfahren. Alice Urbachs höchst erfolgreiches Wien-Kochbuch von 1935 wurde nach dem »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich und Urbachs Flucht nach England mit geringen inhaltlichen Anpassungen unter dem mutmaßlich fiktiven Verfassernamen »Rudolf Rösch« neu aufgelegt, die eigentliche Verfasserin sah sich 1938 genötigt, gegen eine bescheidene Geldzahlung auf ihre Rechte zu verzichten.
Alice Urbachs »So kocht man in Wien!« ist ein bestürzendes Beispiel für den rücksichtslosen Umgang mit dem geistigen Eigentum einer jüdischen Autorin, überdies nach dem Zweiten Weltkrieg jahrzehntelang fortgesetzt. Um einen Einzelfall handelt es sich nicht. Ein weiteres Beispiel hat Peter Voswinckel in einer minutiösen Studie über Josef Löbel bekannt gemacht. Löbel verfasste für den Verlag Knaur ein populäres »Gesundheitslexikon«, das eine stabile Umsatzsäule war; es wurde 1939 durch einen jungen Arzt unter Pseudonym »übernommen«. Achim Bonte hat anhand des Buchgestalters Georg Salter nachgewiesen, dass auch Schutzumschläge und Einbände – die in der Weimarer Republik eine besondere Rolle im Verlagsmarketing spielten und beachtliches gebrauchsgrafisches Niveau erreichten – nicht gegen die Verschleierung ihrer Urheber gefeit waren. Man entfernte einfach Salters Signaturen und verwendete die von ihm geschaffenen Vorlagen weiter, ohne damit in Konflikt mit den sonst restriktiven staatlichen Kontrollinstanzen zu geraten. Bonte weist ferner darauf hin, dass beispielsweise der Verlag S. Fischer in Berlin bereits hergestellte Schutzumschläge mit einigem Aufwand von Werbung für nun »unerwünschte« Buchtitel etwa von Arthur Schnitzler, Jakob Wassermann und Leonhard Frank »säubern« ließ.
Die Auflistung ließe sich fortsetzen. Diese Fälle zeigen: Verlage verhielten sich oft opportunistisch. Vielfach waren nicht Texte oder sonstige schöpferische Anteile an der Buchproduktion das Problem, sondern ihre Urheberinnen und Urheber. Das klingt banal – und das ist es im Grunde auch; es ging um eine möglichst geräuschlose Anpassung an die neuen politischen Machtverhältnisse bei gleichzeitiger Wahrung der wirtschaftlichen Interessen der Verlage.
Ist bislang, was den fragwürdigen Umgang mit geistigem Eigentum in der Buchbranche nach 1933 angeht, lediglich die Spitze des Eisbergs sichtbar? Das wäre vielleicht eine übertriebene Formulierung, die Grundlinien sind immerhin erkannt. Regelmäßig waren Firmenjubiläen ein Anlass für eine nähere Beleuchtung eines Verlagsprogramms in der Nazizeit. Das trifft auf Stefan Rebenichs konzise Darstellung zum 250-jährigen Bestehen des Verlags C. H. Beck in München zu. Angelika Königseder hat sich im Rahmen eines Forschungsauftrags mit dem Berliner Wissenschaftsverlag Walter de Gruyter befasst und quellennah gezeigt, wie wegen ihrer Herkunft oder aus anderen Gründen unbequem gewordene Autoren und Herausgeber bereits 1933 und 1934 sukzessive verdrängt wurden.
Die Aufklärung, wie Verlage im »Dritten Reich« mit Urheberinnen und Urhebern umgingen, erfordert detektivisches Gespür und kleinteilige Arbeit. Das heißt auch, Bücher in die Hand zu nehmen, Erst- und Neuauflagen zu vergleichen und zwischen den Zeilen zu lesen. Nicht selten bewegt man sich in bibliografisch unzureichend erschlossenen Gebieten. Ohne aussagekräftiges Archivmaterial – Korrespondenzen, Honorarabrechnungen und dergleichen –, sofern vorhanden und zugänglich, geht es meist nicht.
Die Historische Kommission des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels in Frankfurt am Main, der neben Wissenschaftlerinnen unter anderem Bibliothekare, Archivarinnen und Verleger angehören, befasst sich seit den 1970er Jahren mit der Buchhandelsgeschichte nach 1933. Das Engagement mündete in einer von Ernst Fischer und Reinhard Wittmann herausgegebenen, 2023 abgeschlossenen mehrbändigen Darstellung zum »Dritten Reich«, die neben den Unternehmen – hauptsächlich Verlagen und Buchhandlungen – auch die Perspektive der Autorinnen und Autoren sowie die unrühmliche Rolle des Börsenvereins selbst umfassend berücksichtigt. Besonders intensiv wurde durch Ernst Fischer die verlegerische und buchhändlerische Emigration aus Deutschland und Österreich nach 1933 beziehungsweise 1938 behandelt. Die Historische Kommission hat zudem die Onlineerschließung von mehreren Tausend Mitgliedsakten aus den 1930er und 1940er Jahren sowie die vollständige Digitalisierung des »Börsenblatts für den Deutschen Buchhandel« bis 1945 befördert. Das »Börsenblatt«, mehrmals wöchentlich von der Buchstadt Leipzig aus ins ganze Deutsche Reich und in angrenzende Länder verschickt, ist nicht zuletzt durch seinen fast überbordenden Anzeigenteil eine wichtige Quelle.
Die vorhandenen Veröffentlichungen und von verschiedenen Institutionen zur Verfügung gestellten Ressourcen schließen die zeitgeschichtlichen Forschungen keinesfalls ab, bieten aber hoffentlich eine solide Grundlage für die höchst wünschenswerte kritische Spurensuche. Der Alltag der Historischen Kommission zeigt, dass sich nicht wenige Mitgliedsunternehmen des Börsenvereins dort, wo es einschlägig ist, mit ihrer Geschichte beschäftigen wollen. Man darf davon ausgehen, dass sich das Bild des Buchhandels in den komplizierten Zeitläuften des 20. Jahrhunderts in den nächsten Jahren weiter differenzieren wird. Für die Urheberinnen und Urheber, die in der NS-Zeit ausgegrenzt, verfolgt und auf perfide Weise um ihr materielles und immaterielles Eigentum gebracht wurden, kommt das in den allermeisten Fällen zu spät. Es bleibt dennoch eine bedeutsame historiografische Aufgabe, der sich der Börsenverein und seine Mitglieder stellen.