Das Weltkulturerbe Dessau-Rosslau umfasst das Bauhaus mit der 1919 gegründeten Kunsthochschule und den Meister- und Laubenganghäusern sowie das Gartenreich Dessau-Wörlitz mit Schlössern und Parks, Gärten und Seen, eingebettet in eine Kulturlandlandschaft.

 

Ludwig Greven: Dessau hat drei ganz unterschiedliche Welterben, das Bauhaus mit seinen Stätten, das Gartenreich Dessau-Wörlitz und die Römerbrief-Vorlesung von Martin Luther als Weltdokumentenerbe. Welche Bedeutung hat das für Ihre Stadt?

Nadine Willing-Stritzke: Für Dessau ist es identitätsstiftend. Damit können wir strahlen. Über den ideellen Wert hinaus hat es für uns im Osten den Mehrwert, dass es den Tourismus als Wirtschaftsfaktor fördert. In diesem Jahr feiern wir den Umzug des Bauhauses nach Dessau vor 100 Jahren. In Weimar, wo es 1919 gegründet wurde, war es politisch nicht mehr gelitten, die Nationalsozialisten waren da auf dem Vormarsch. Das Bauhaus suchte einen neuen Standort, Dessau hat gegen Konkurrenten den Zuschlag bekommen, auch mit finanziellen Absicherungen, obwohl es keine bedeutende Kulturstadt war. Für Dessau war es sehr wichtig, dieses Experiment zu wagen, auch wenn die Architekten und Gestalter und ihre Studenten ambivalent aufgenommen wurden. Aber der damalige Bürgermeister Hesse hat es durchgesetzt.

 

Was verbindet das Bauhaus mit den beiden anderen Welterben?

Für mich ist die ideelle Klammer, dass es immer wieder Reformbewegungen waren in ihrer Zeit. Luther wollte nicht nur die Kirche neu gestalten, er hatte auch einen Bildungsanspruch. Der Gründer des Gartenreichs Wörlitz, Leopold III. von Anhalt-Dessau, hat als Aufklärer das Schulwesen reformiert. Er hat die Parkanlagen für alle Besucher geöffnet und seine Handwerker im 18. Jahrhundert im damals modernen Bauen schulen lassen, nach italienischem Vorbild. Das Bauhaus schließlich hat das heutige moderne Bauen geprägt. Wir haben eine solche Dichte ihrer Bauten wie keine andere Stadt. Als Kunsthochschule wollten seine Direktoren und Professoren das gesamte Lebensumfeld der Menschen neu gestalten, nicht nur das Wohnen. Aus dem Humus hier hat sich also immer wieder Neues entwickelt.

 

Was bringt das heute der Stadt?

Mir ist wichtig, das lebendig zu halten. Es ist nicht immer einfach, es den Menschen nahezubringen. So wie es vor 100 Jahren nicht leicht war, das Bauhaus mit seinen Provokationen in diese Stadt zu ziehen, die sehr bürgerlich war. Das gab und gibt eine Spannung, für die ganze Region.

 

Wie gelingt es Ihnen, in der heutigen Zeit gerade im Osten Stolz auf die Reformen und die Moderne zu vermitteln, die sich mit dem Bauhaus verbinden?

Wir versuchen das, indem wir den gesamten Diskurs und die Kontroversen von damals in Lesungen und mit Bildern präsentieren. Die hiesigen Tischler fanden es zum Beispiel furchtbar, wie die Bauhaus-Leute Stühle gestalteten. Heute würden sie es sicher anders sehen, die Stühle sind Klassiker, genauso wie die Bauhaus-Architektur. Diese Lesungen finden erstaunlich viel Resonanz. Und wir binden die Schulen stark ein. Die Spannungen, die es heute gibt, blenden wir dabei bewusst nicht aus.

Vom früheren bürgerlichen Dessau ist aber nichts geblieben.

Die Stadt wurde im Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstört, das bürgerliche Stadtbild gibt es nicht mehr. Es wurde durch DDR-Plattenbauten ersetzt.

 

Die Plattenbauten haben, vor allem im Westen, einen sehr schlechten Ruf. Aber sie standen ja auch für modernes Bauen in der Frühzeit der DDR. Verknüpfen Sie das?

Ja, das Gebäude der Hochschule ist ja davon umgeben. Das Bauhaus bekam damals den Auftrag, mit neuen Materialen zu experimentieren in einer Modellsiedlung. Das war eine Vorform des Plattenbaus. Martin Gropius hat dafür eine Fertigungsstrecke errichten lassen. Das erzählen wir immer, um zu zeigen: Die DDR-Plattenbaugeschichte fing dort an, bei uns in der Siedlung in Törten. Natürlich aus der Not geboren. Die DDR hat ja nicht in Altbauten investiert, die restlichen wurden abgerissen. Die SED-Führung wollte stattdessen maximalen Wohnraum schaffen. Daran waren ehemalige Studenten des Bauhauses beteiligt. Diesen Ostmoderne-Schatz wollen wir der Bevölkerung im Jubiläum zeigen, mit seiner direkten Anknüpfung an das Bauhaus. Und zwar positiv. Damals wurde preiswert guter Wohnraum erstellt, auch in den Laubenganghäusern. Diesen Bogen wollen wir schlagen, indem wir etwa junge Leute auf Fotosafari durch die Stadt schicken.

 

Die Plattenbauten im Zentrum sind nicht unbedingt ein lebenswerter Ort.

Idyllisch ist das nicht. Da leben viele Migranten, es gibt wie vor 100 Jahren soziale Not. Das Bauhaus-Museum steht mittendrin. Die Bauhaus-Stiftung öffnet es und versucht, die Leute reinzuholen. Das gelingt nicht immer. Deshalb bietet sie auch Picknicks im benachbarten Stadtpark an. Und wir machen Rundgänge durch die verschiedenen Plattenbau-Typen, die zum Teil den Grundrissen des Bauhauses entsprechen. Die Bewohner sollen selbst erzählen. Viele wohnen dort seit Anfang bis heute. Diese Geschichten wollen wir sammeln und den jungen Leuten vermitteln. Das soll ihnen ein positives Gefühl für ihre Heimatstadt geben. Ich bin selbst in einem Plattenbau aufgewachsen und fand es furchtbar. Heute habe ich einen anderen Blick darauf. Meine Eltern sind hochbetagt wieder in eine Platte gezogen, weil sie barrierearm, komfortabel und hell ist. Mitten in der Stadt.

 

Vielen Dank.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 6/2025.