Schließen Sie einmal Ihre Augen und versetzen Sie sich zurück in Ihre Kindheit, vielleicht, als Sie bei Ihren Großeltern die Ferien verbrachten. Gab es da nicht etwas, das Sie jedes Jahr zu einer bestimmten Zeit gemeinsam gebastelt, gekocht oder unternommen haben? Einen bestimmten Brauch zur Frühlings- oder Herbstzeit, der Sie heute noch in Ihre Kindheit zurückversetzt? Der Sie an Ihre Heimat erinnert und den Sie vielleicht an Ihre eigenen Kinder weitergeben?

Bei mir ist es das Verzieren von Ostereiern mit Wachs. Es gehört zu den »Gesellschaftlichen Bräuchen der Lausitzer Sorben im Jahreslauf«, die als eine der ersten Eintragungen im Jahr 2014 Einzug in das Bundesweite Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes fanden. Eier werden auch in vielen anderen Regionen jenseits des sorbisch-wendischen Siedlungsgebiets verziert. Ich selbst habe den Brauch aus der Lausitz mit in das Rheinland genommen, wo er mich heute regelmäßig an meine Lausitzer Großeltern erinnert.

Immaterielles Kulturerbe ist weit mehr als Folklore, Trachten oder altes Handwerk. Es sind lebendige Bräuche und Feste, überliefertes Wissen und Fertigkeiten, die wir im Alltag ganz selbstverständlich ausüben und die unsere Identität prägen. Es ist das, womit wir unser Leben gestalten, was wir weitergeben und dabei immer auch ein wenig verändern, um es an die heutige Welt anzupassen. Immaterielles Kulturerbe ist das, was Gemeinschaften zusammenhält.

 

Die UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes

Die UNESCO definiert immaterielles Kulturerbe als »Bräuche, Darstellungen, Ausdrucksformen, Wissen und Fertigkeiten – sowie die dazu gehörigen Instrumente, Objekte, Artefakte und kulturellen Räume«, die »von einer Generation an die nächste weitergegeben« werden und »ein Gefühl von Kontinuität und Identität« vermitteln (UNESCO 2003, Artikel 2.1). Von darstellenden Künsten über soziale Praktiken bis hin zu Handwerk und überliefertem Naturwissen ist immaterielles Kulturerbe in vielen gesellschaftlichen Bereichen relevant. Oft bildet es die kulturelle DNA einer Gemeinschaft und kann soziale oder ökonomische Ressource sein: ein »Garant nachhaltiger Entwicklung«, wie es in der Präambel der UNESCO-Konvention von 2003 heißt.

Mit der Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes hat die UNESCO im Jahr 2003 erstmals das Bewahren lebendiger kultureller Praktiken als internationale Aufgabe anerkannt. Mittlerweile sind 788 immaterielle Kulturpraktiken aus 150 Ländern in die Listen der UNESCO aufgenommen worden, zehn davon mit deutscher Beteiligung. Ziel des Übereinkommens ist es, die Vielfalt menschlicher Ausdrucksformen zu erhalten und auf der ganzen Welt sichtbar zu machen, den Austausch zwischen den Völkern zu fördern und lokale Gemeinschaften zu stärken.

 

Kriterien für die Aufnahme

Im Gegensatz zum UNESCO-Welterbe, das als materielles Kulturerbe in Form von historischen Bauten, Naturgebilden oder Kulturlandschaften mit dem Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt bewahrt wird, handelt es sich beim immateriellen Kulturerbe um Wissen und Können, das von Mensch zu Mensch weitergegeben wird. Materielles Kulturerbe wird durch bestimmte Schutz- und Konservierungsmaßnahmen für die zukünftigen Generationen erhalten. Versucht man hingegen, lebendige Kulturpraktiken zu konservieren, ist dies oft ein Garant für ihr Aussterben. Immaterielles Kulturerbe muss sich stetig weiterentwickeln, um in Zukunft bedeutungsvoll und somit am Leben zu bleiben. So lauten auch die Kriterien der UNESCO-Konvention: Um als immaterielles Kulturerbe zu gelten, muss eine Kulturform über Generationen weitergegeben worden sein und heute aktiv praktiziert werden. Ebenso muss es von einer eindeutig definierbaren Gemeinschaft, der Trägergruppe, als Teil ihres Kulturerbes anerkannt werden. Die kulturellen Praktiken dürfen nicht gegen die Menschenrechte verstoßen und sollen zur nachhaltigen Entwicklung beitragen.

Staaten, die der Konvention beitreten, richten zunächst nationale Inventare des immateriellen Kulturerbes ein. Nur wenn eine kulturelle Praktik bereits auf nationaler Ebene gelistet ist, kann eine Nominierung bei der UNESCO erfolgen. In Deutschland gibt es seit 2013 das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes, in dem aktuell 168 Kulturformen eingeschrieben sind. Für eine Aufnahme in das Verzeichnis reichen Interessierte zunächst ein Bewerbungsformular in ihrem Bundesland ein, wo eine Jury die Anträge prüft. Pro Land werden maximal vier Anträge über die Kultusministerkonferenz an die Deutsche UNESCO-Kommission weitergeleitet. Diese setzt ein unabhängiges Fachkomitee ein, das anhand festgelegter Kriterien eine Auswahl für das Bundesweite Verzeichnis trifft. Mit der Aufnahme in das Verzeichnis ist die Kulturform als immaterielles Kulturerbe in Deutschland anerkannt. Es handelt sich dabei noch nicht um eine UNESCO-Nominierung. Eine Bewerbung für die Aufnahme in eine UNESCO-Liste kann erst nach nationaler Listung unter bestimmten Voraussetzungen und in Abstimmung mit dem Auswärtigen Amt vorgenommen werden.

 

Motor für Demokratie und Teilhabe

Immaterielles Kulturerbe ist nicht nur identitätsstiftend, sondern fördert ebenso gesellschaftliche Teilhabe und Demokratiebildung. Exemplarisch hierfür steht die erste deutsche Einschreibung in die Repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes der UNESCO von 2016, das Genossenschaftswesen. Genossenschaften basieren auf demokratischen Prinzipien; die Mitwirkung steht allen Personen offen. Die Genossenschaftsidee fördert sozialen Zusammenhalt, indem sie gemeinsames wirtschaftliches Handeln durch Solidarität und gegenseitige Unterstützung ermöglicht. Das erhöht das Vertrauen in demokratische Prozesse, motiviert zum ehrenamtlichen Engagement und fördert den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Das Projekt »UNESCO 5 – Erbe der Lausitz« steht exemplarisch dafür, wie immaterielles Kulturerbe den Strukturwandel in einer ehemaligen Kohleregion fördern und eine zukunftsfähige Identität jenseits des Bergbaus schaffen kann. Mittels des immateriellen Kulturerbes der Lausitzer Sorben/Wenden vernetzt das Projekt vier UNESCO-Stätten, um lokale Wertschöpfungspotenziale zu erschließen und die Lausitz langfristig für die Bevölkerung und den Tourismus attraktiver zu machen. Hier wird sichtbar, wie immaterielles Kulturerbe gesellschaftlichen Wandel positiv befördern kann, vom Kohlebergbau hin zu einer nachhaltigen, kulturell vielfältigen Region.

 

Medium der Völkerverständigung

Unter deutscher Federführung konnte 2023 das Hebammenwesen gemeinsam mit sieben weiteren Staaten (Kirgisistan, Kolumbien, Luxemburg, Nigeria, Slowenien, Togo und Zypern) in die Repräsentative Liste des Immateriellen Kulturerbes der Menschheit eingeschrieben werden. Hierbei handelt es sich um die erste interkontinentale UNESCO-Listung aus vier unterschiedlichen Weltregionen. Allein die Koordinierung der gemeinsamen Bewerbung von Hebammen aus acht Staaten war ein Akt der Völkerverständigung. Fast noch beeindruckender: Die Einschreibung macht sichtbar, dass das Hebammenwesen zwar zahlreiche regionale und kulturelle Unterschiede aufweist, aber alle Hebammen der Welt ein gemeinsames Wissen und Können teilen. Egal ob in Bischkek, Bogota oder Berlin: Wir alle kommen auf dieselbe Weise zur Welt. Gibt es ein schöneres Sinnbild für die zentralen Anliegen der UNESCO, gegenseitiges Verständnis, internationale Zusammenarbeit und Frieden zu fördern?

 

Mehr dazu

Noch bis zum 31. Oktober 2025 können Menschen in ganz Deutschland lebendige kulturelle Traditionen und Ausdrucksformen für die Aufnahme in das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes vorschlagen. Das Bewerbungsformular, Ansprechpartner in den Bundesländern und alle weiteren Informationen finden sich auf der Website der Deutschen UNESCO-Kommission.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 6/2025.