Wer sich durch das bundesweite Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes in Deutschland klickt, stößt auf eine erstaunliche Vielfalt musikalischer Traditionen. »Choralsingen« ist aufgenommen, die »Revitalisierung synagogaler Chormusik« und auch die »Amateurmusikpflege in Baden-Württemberg«. Die Bandbreite ist groß. Sie spiegelt ein differenziertes, aber auch selektives Verständnis davon, was musikalisches Erbe heute bedeutet.

Welche Musiktraditionen im Verzeichnis vertreten sind, ist Ergebnis eines vielstufigen Auswahlverfahrens via jeweiligem Bundesland, Deutsche UNESCO-Kommission, Kultusministerkonferenz und Bundesregierung. Bewerbungen werden aus der Zivilgesellschaft eingereicht. Über die Aufnahme entscheidet ein unabhängiges, in der Regel für drei Jahre eingesetztes Fachkomitee. »Das entspricht den Berufungsregularien«, erklärt Marlen Meißner, Leiterin der Abteilung Erbe, Natur, Gesellschaft der Deutschen UNESCO-Kommission. Besonderer Wert wird bei der personellen Besetzung auf fachliche Ausgewogenheit gelegt. Aktuell gehören dem Gremium beispielsweise für die Musiksparte Martin Eifler – ausgewiesener Experte für Musik-, Theater- und Tanzkultur – und Mitra Behpoori – Musikwissenschaftlerin an der Hochschule Franz Liszt in Weimar und UNESCO-Chair für Transkulturelle Musikforschung – an. Ziel ist eine umfassende fachliche Einschätzung, damit für das Verzeichnis eine möglichst breite Repräsentation kultureller Ausdrucksformen zustande kommt. Und dennoch gibt es Verdichtungen. Marlen Meißner: »Eine gewisse Tendenz gibt es durchaus. Sie liegt aber eher im Bereich des Handwerks, nicht unbedingt bei der Musik.« Von derzeit insgesamt 168 Einträgen im Verzeichnis sind 24 dem Bereich Musik und Darstellende Kunst zuzuordnen, wobei gilt, dass Spartenabgrenzungen nicht immer eindeutig möglich sind. »Schwäbisch-Alemannische Fastnacht« beispielsweise ist ohne Musik undenkbar, ist aber auch kein Verzeichniseintrag, der per se auf musikalische Praktiken verweist. Der Eintrag »Vogtländischer Musikinstrumentenbau in Markneukirchen und Umgebung« hingegen wäre Handwerk plus Musik zuzuordnen. Kurzum: Eine quantitative Bewertung ist schwierig.

Insgesamt, das steht fest, ist die Musik im bundesweiten Verzeichnis dennoch gut vertreten. Die sächsischen Knabenchöre oder die Tradition der Posaunenchöre zeugen von tief in regionale und konfessionelle Kontexte verwurzelten Musikpraktiken. Das verwundert nicht. Deutschland gilt gemeinhin als Musikland. Vieles, was andernorts als besonders gilt, wird hier fast als selbstverständlich wahrgenommen: die Dichte an Orchestern, Chören, Musikschulen und Laienensembles ist im internationalen Vergleich außergewöhnlich. Doch gerade die Selbstverständlichkeit verlangt nach bewusster Wertschätzung! Ein Beispiel hierfür ist die Aufnahme der Deutschen Theater- und Orchesterlandschaft in das Bundesweite Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes, die maßgeblich auf Initiative der Deutschen Orchestervereinigung – heute unisono – zurückreicht. Nicht zuletzt stehen hinter den Bemühungen um die UNESCO-Anerkennung auch kulturpolitische Interessen, da ein Eintrag durchaus helfen kann, gegebenenfalls Argumente gegenüber Öffentlichkeit und Entscheidungsträgern zu stärken, wenn Sparmaßnahmen drohen. Ohne diesen Effekt direkt messen zu können, profitiert unisono unterschwellig auch heute vom Verzeichniseintrag. Grundsätzlich wichtig ist, die Relevanz deutlich zu machen: Die Vielfalt an öffentlich getragenen Bühnen und Klangkörpern in Deutschland ist ein kulturelles Erbe, das sich aus der zersplitterten Struktur der rund 300 Kleinstaaten im deutschsprachigen Raum entwickelte. Hierfür gilt es, Verantwortung zu tragen.

Ein nicht zu unterschätzender Faktor bei der erfolgreichen Aufnahme ins Verzeichnis ist der Organisationsgrad der antragstellenden Gruppen. Während unisono als hochprofessioneller Verband agieren kann, verfügen andere Bewerber nicht über vergleichbare Ressourcen. Wer es ins Verzeichnis schaffen will, muss in der Lage sein, sein kulturelles Wissen und seine Praxis strukturiert darzustellen. Der Bewerbungsprozess wirkt dabei nicht selten als Katalysator: Er bringt Akteure zusammen, stärkt den inneren Zusammenhalt und kann bestehende Netzwerke deutlich erweitern.

Ein anschauliches Beispiel für die integrative Kraft und kulturpolitische Wirkung einer erfolgreichen Bewerbung liefert der Landesmusikverband Baden-Württemberg. Dessen Präsident Christoph Palm begleitete 2018 die Aufnahme der »Amateurmusikpflege in Baden-Württemberg« ins Bundesweite Verzeichnis. Der 2008 gegründete Verband selbst ist in seiner Struktur bundesweit einzigartig: Er vereint unter einem Dach gleich elf Mitgliedsverbände– von Blasorchestern und Chören über Akkordeon- und Zitherspieler bis hin zu Liebhaberorchestern und Hackbrettgruppen. Eine solche Vielfalt musikalischer Laienkultur ist in anderen Bundesländern institutionell nicht vergleichbar organisiert. Dort existieren meist spezialisierte Einzelverbände für jeweils eine Sparte.

Dass ausgerechnet die Amateurmusikpflege Baden-Württembergs ins Bundesweite Verzeichnis aufgenommen wurde, liegt an ihrer besonderen Dichte und Qualität: Rund 6.200 Musikvereine und Chöre prägen das kulturelle Leben im Südwesten – eine weltweit einmalige Zahl. Zwei Gutachter bestätigten dies im Bewerbungsverfahren. Historisch wurzelt diese Vielfalt im 19. Jahrhundert, als sich im süddeutschen Raum eine lebendige bürgerliche Musiktradition entwickelte, die von Komponisten wie Conradin Kreutzer und Friedrich Silcher getragen wurde und eng verknüpft war mit der demokratischen Erweckungsbewegung. Dieses kulturelle Erbe wirkt bis heute nach. Die Aufnahme ins Verzeichnis habe, so Palm, nach innen und außen spürbar Wirkung entfaltet. In der Musikszene selbst hat sie das Selbstbewusstsein gestärkt: »Man weiß jetzt, dass man etwas Außergewöhnliches leistet und das verpflichtet auch.« Nach außen wiederum sei die Reputation im Hinblick auf Politik und Öffentlichkeit gewachsen. Dass es – bei allen Problemen des demografischen Wandels und des schwierig und komplex gewordenen Vereinswesens – dennoch in fast jedem Dorf Baden-Württembergs noch einen oder mehrere Musikvereine gebe, werde nun als kulturelle Leistung sichtbarer wahrgenommen. »Ich habe das nie so platt genutzt, um etwa beim Land – von dem wir die meisten Zuschüsse erhalten – zu sagen: ›Hallo, wir sind Kulturerbe‹. Aber unterschwellig spielt das schon eine Rolle«, so Palm. Die Anerkennung als immaterielles Kulturerbe wirkt wie ein Qualitätssiegel. Man trägt es nicht vor sich her, aber es schafft Aufmerksamkeit und Legitimation. Nicht zuletzt habe sich die Wirkung in schwierigen Zeiten wie der Coronapandemie gezeigt. Vereinsvorstände, die das kulturelle Erbe in ihrem Rücken wussten, waren in der Krise eher gehemmt, den Laden dicht zu machen. Das wirke bis heute. »Im Gegenteil strengt man sich jetzt eher an, den Verein zukunftsfähig zu machen«, ist Palm überzeugt.

Die Aufnahme ins Verzeichnis bringt keine finanziellen Fördermittel mit sich. Die UNESCO vergibt kein Preisgeld oder ähnliches. »Die Trägergruppen, die ins Verzeichnis aufgenommen werden wollen, folgen vor allem dem Wunsch, ihre Tradition sichtbar zu machen und langfristig zu sichern«, sagt Marlen Meißner von der Deutschen UNESCO-Kommission. Die Anerkennung als »offizielle Trägergruppe« und die feierliche Übergabe einer Urkunde – häufig durch politische Prominenz – stärken das Selbstverständnis. Das tut insbesondere musikalischen Initiativen gut, die mit Nachwuchsproblemen oder gesellschaftlichem Bedeutungsverlust zu kämpfen haben. Wobei: Hier schafft das Verzeichnis auch Klarheit, dass die Realität mitunter besser als gedacht aussieht. Unter dem »Register Guter Praxisbeispiele« werden Initiativen hervorgehoben, die auf vorbildliche Weise zum Erhalt immateriellen Kulturerbes beitragen. Die »Amateurmusikpflege in Baden-Württemberg« wurde als solches Beispiel ausgezeichnet, weil hier das »Weitergeben« der Tradition fest verankert ist. Die Vereine haben umfassende Strukturen der Nachwuchsförderung etabliert, die vom ersten Instrumentalunterricht bis zur Ausbildung von Dirigentinnen und Dirigenten reichen.

Der Erfolg dieses modellhaften Systems zeigt sich in den Zahlen der Blasmusikverbände: Fast die Hälfte der aktiven Mitglieder ist unter 27 Jahre alt.

Weil die Musik in Deutschland so omnipräsent ist, kommt es unter den Einträgen des Bundesweiten Verzeichnisses auch zu Überschneidungen, wie etwa beim 2016 aufgenommenen »Instrumentalen Laien- und Amateurmusizieren« und der »Chormusik in deutschen Amateurchören«, die seit 2023 dabei ist. Letzten Endes zeigen die inhaltlichen Berührungspunkte aber nur die weite Verbreitung musikalischer Praktiken. Gerade die Chormusik mit rund 1,6 Millionen aktiven Sängerinnen und Sängern steht hier beispielhaft für ein lebendiges Kulturgut, das vielerorts generationenübergreifend und identitätsstiftend wirksam ist. Allerdings gilt auch: So differenziert das UNESCO-Verzeichnis in bestimmten Bereichen ist – etwa im Chorwesen –, so lückenhaft bleibt es in anderen. Wo sind etwa die Einträge zur populären Musikpraxis, zu migrantischen Musikkulturen, zur Clubkultur, zur elektronischen Musik? Die Hürden zur Antragstellung und die Orientierung an tradierten Begriffen wie »Pflege« oder »Tradition« könnten hier als Barrieren wirken.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 6/2025.