Regensburg, an einem Mittwochabend um halb zehn, das Thermometer geht gegen Null: Auf dem Bismarckplatz haben sich etwa 300 Menschen versammelt. Ihr Blick richtet sich nach oben, zum hell erleuchteten Balkon des Theaters, auf dem Notenständer und Mikrophone aufgebaut sind. Moderiert von Intendant und Regisseur Sebastian Ritschel, stellt das Ensemble ohne Rücksicht auf die Stimmgesundheit die Produktion des Musicals »Come from away« vor, die zwei Wochen später als deutsche Erstaufführung über die Bühne gehen wird. »Balkonsingen« heißt das Format des Theaters Regensburg, das hier zum 25. Mal stattfindet, ein buchstäbliches Sich-Öffnen des Hauses als ein niederschwelliges, für alle offenes Angebot. Ist das schon Teilhabe, Partizipation?
Wenn man den Begriff entsprechend weit fasst, wohl schon: »In einer sich rasant ändernden Welt kann es Ziel des Vermittlungsprogramms sein, heterogenen Dialoggruppen und Publika jeden Alters mit unterschiedlichen Formaten von künstlerisch-kreativ-partizipativem bis zu kognitiv-reflektierendem Charakter persönliche Zugänge zur Kunstform Musiktheater im Sinne des jeweiligen Opernhauses zu ermöglichen.« Das schreibt Anne-Kathrin Ostrop im Artikel »Opernhäuser« im »Handbuch Musikvermittlung« (Bielefeld, transcript, 2023), wobei mit »Vermittlung« ein weiterer Begriff genannt ist, der in das Thema Partizipation hineinspielt.
Durchforstet man die Angebote der über 80 öffentlich getragenen Theater mit Opernsparte, so wird schnell deutlich, dass an allen Häusern irgendeine Art von Musiktheatervermittlung stattfindet: Einführungen und Nachgespräche zu den Aufführungen; Blicke hinter die Kulissen in Form von Führungen oder Probenbesuchen, bis hin zur Möglichkeit in der Statisterie, im Chor oder in anderen Bereichen mitzuwirken; Kooperationen mit Schulen und anderen Bildungsträgern, bei denen beispielsweise in Workshops Opernbesuche vorbereitet werden; mobile Produktionen, mit denen die Theater ihr Stammhaus verlassen; »Junges Theater« oder »Kinderoper« als Sparten mit eigens für jüngere Zielgruppen konzipierten Produktionen und manchmal auch mit der Möglichkeit, in so genannten »Clubs« eigene Stücke zu entwickeln.
»Stückentwicklung« ist dann auch ein Schlüsselbegriff, wenn es um Partizipation im engeren Sinne geht bzw. um Vermittlung, verstanden »als eine künstlerische Praxis, als ein dialogisches Prinzip mit Austauschprozessen, das alle Beteiligten in irgendeiner Form einbindet«. Diese Formulierung wählt Tamara Schmidt, die das Lehr- und Forschungsprojekt »Musik als gesellschaftliche Praxis« an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover leitet. Zusammen mit der Theatervermittlerin und Dramaturgin Kristina Stang hat sie die berufsbegleitende Weiterbildung »Musiktheatervermittlung: Künstlerische Praxis und Partizipation« an der Bundesakademie für Kulturelle Bildung Wolfenbüttel konzipiert, um dem Fachkräftemangel in diesem Bereich entgegenzuwirken. »Partizipation«, so Kristina Stang im Gespräch, »heißt nicht ›ich habe etwas und erlaube dir mitzumachen‹, sondern ›ich gehe mit dir gemeinsam ins Machen‹«. »Das heißt«, ergänzt Tamara Schmidt, »wir machen schon Spielplanvermittlung, indem wir zum Beispiel Mozarts ›Zauberflöte‹ für eine Schulklasse öffnen. Aber häufig gehen wir von den Lebensrealitäten, von den Geschichten aus, die die Menschen zu erzählen haben.« Für Kristina Stang ist entscheidend, »dass man nicht nur ein Projekt vom eigenen Interesse ausgehend konzipiert und hofft, dass es jemanden erreicht, sondern dass es eine umgekehrte Bewegung ist: Man fängt auf, was aus der Gesellschaft kommt, sortiert es und entscheidet dann mit der Gruppe, womit man arbeiten möchte.«
Eines der Häuser, die diesen Weg nahe am Puls der Stadtgesellschaft gehen, ist das Staatstheater Cottbus. Leonie Arnhold, beim »Jungen Staatstheater« für Musiktheater und Ballett zuständig, erlebt ihr Haus als »sehr eng mit seiner Stadt verwoben«: »Das Gebäude wurde von den Bürgern dieser Stadt gebaut und insofern wird die Frage nach Partizipation oder danach, wem das Theater gehört, hier immer wieder thematisiert.« Bei ihren Workshops zu »normalen« Spielplanproduktionen geht sie häufig von der weit verbreiteten Methode der Szenischen Interpretation aus: »Bei einer Form wie der Oper, die ja sehr künstlich ist, macht es Sinn, die Gruppe erst einmal einen persönlichen Bezug zu den Figuren entwickeln zu lassen, indem jede Person eine Rolle übernimmt und die Opernhandlung wirklich aus der Perspektive dieser Figur betrachtet.«
Im Jugendclub, in dem gerade ein Stück zum Thema »Wachsen« entsteht, geht es, so Arnhold, was musikalische Partizipation angeht, oft um Aufbauarbeit: »Ich habe jetzt mehrere Stücke gemacht, in denen mehr und mehr Musik vorkam. Entscheidend ist, dass die akustische, die musikalische Ebene mitgedacht wird durch Geräusche, durch Rhythmen oder Dinge, die gesummt werden. Und auch auf der Bühne zu singen ist kein Tabu mehr, da machen die Leute inzwischen mit. Und das macht mich wirklich sehr glücklich, denn es bedeutet, dass ich einen Kanal künstlerischen Ausdrucks geöffnet habe, an den sich vielleicht vorher niemand herangetraut hätte.«
Kristina Stang sieht in solchen Partizipationsformaten noch weitere Chancen: »Eine Inszenierung mit Leuten zu sehen, die aus meiner Community kommen, kann sehr mutmachend sein. Das schafft Zugänglichkeit und auch Veränderungen im institutionellen Kulturbetrieb, über alle Sparten hinweg.« Inwieweit ein Theater für solche Veränderungen offen ist, hängt, so Tamara Schmidt, vor allem von der Frage ab, welcher Stellenwert der Vermittlungsarbeit am Haus eingeräumt wird, ob sie als »Add-on« oder als fester Bestandteil des »Kerngeschäfts« angesehen und behandelt wird.
In jedem Fall stehen – im Vergleich zum Sprechtheater – diese Transformationsprozesse in der nach wie vor stark von einem geschlossenen Werkbegriff geprägten Oper wohl erst am Anfang und umfassen unter anderem noch Aspekte des Dialogs der Generationen und der Kulturen sowie Inklusion und Barrierefreiheit. Bleibt zu hoffen, dass sie nicht den allgegenwärtigen Spardiktaten zum Opfer fallen und die öffentlichen Bühnen ihre oft freiberuflich mitarbeitenden Musiktheatervermittlerinnen künftig nicht in der Kälte stehen lassen.