Musik verbindet, schafft Teilhabe: In der Musik bediene man sich schließlich einer Sprache, die ein jeder verstehe; sie komme von Herzen und möge unmittelbar wieder zu Herzen gehen. Mit dieser Paraphrase einer Partiturnotiz aus dem Kyrie von Beethovens »Missa solemnis« sind eigentlich alle Klischees bedient: Musik gibt sich nicht nur barrierefrei, sie scheint alle Grenzen, mit denen wir Menschen uns einhegen, um uns voneinander abzugrenzen, überwinden zu können. Solch ein versöhnendes Miteinander scheint bereits Beethoven sich gewünscht zu haben; man denke hier nur an da Verbrüderungspathos seiner 9. Sinfonie. Beethovens Musik richtete sich an alle, die unter den zerstörerischen Einwirkungen der napoleonischen Kriege zu leiden hatten, sie ist getränkt von den Idealen und Enttäuschungen der französischen Revolution, träumt von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, die man in der Musik – und leider nur hier – vollendet sieht. Das gilt wohl gerade auch in Zeiten, die man heute kritisch nennt: Im Unglück der Uneinigkeit fehlt es uns an Orientierungen, die man sich nun von der Musik als einer Universalsprache verspricht.

Auch wenn Legitimationsdebatten um den Musikunterricht in der Schule geführt werden, werden solche Narrative herangezogen. Doch die Versprechungen des Ästhetischen bleiben auch hier eher vage: Wenn empirische Zusammenhänge behauptet werden, ohne dass überhaupt geklärt wird, was unter Teilhabe verstanden werden soll, bleiben wir wie Beethoven in wohlmeinenden atmosphärischen Anmutungen gefangen, ohne den emotional berauschenden Schwindel zu überwinden: Musik entfaltet ihr Potenzial, weil sie ganz viele Sprachen spricht und sich dabei ganz unterschiedlichster Dialekte bedient. Als soziale Praxis dient sie gerade jungen Menschen, sich einer eigenen Identität zu vergewissern. Innerhalb der Peers verspricht Musik Teilhabe, sie dient aber eben gleichzeitig auch der Ab- und Ausgrenzung.

Es lässt sich viel über Teilhabe sprechen, wenn in kulturwissenschaftlichen Diskursen der Blick nach außen gerichtet wird, auf bildungspolitische Debatten, Initiativen und Maßnahmen. Hier soll aber der Blick nach innen erfolgen, es soll auf den Musikunterricht selbst geblickt und seine Stellung im System der Schule hinterfragt werden. Wenn Joseph Haydn einst in einer brieflichen Mitteilung behauptete, seine Sprache verstehe man »durch die ganze Welt«, dann begrenzte sich die versprochene Teilhabe auf sein aristokratisch befracktes Universum der europäischen Fürstenhöfe und schloss hier bestenfalls ein sich gerade emanzipierendes Bürgertum ein. Angesprochen wurde hier jene »Bestherrschaft«, wie sich diese in ähnlicher Exklusivität bis heute als Synonym für »Aristokratie« im schulischen Musik-Neigungskurs der gymnasialen Oberstufe wiederfindet, wo man sich dann der Musik Haydns und Beethovens zuzuwenden hat. Hier geht Musik aber weniger zu Herzen, sondern sieht sich allerlei analytischer Anstrengungen für eine gute Bildung ausgesetzt, die als unmittelbare Voraussetzung für die gesteuerte intrakardiale Injektion der Musik in den Herzmuskel gilt. Musik wird zum verschulten Lerngegenstand und die in Aussicht gestellte Teilhabe wird durch analytische Ausgrabungsarbeiten in der Partitur verstellt. Weil der unmittelbare »zum Herzen« gehende Weg in schulischen Lernmaßnahmen nicht vorgesehen scheint, ist ein überwiegender Großteil aller Bildungswilligen auf solchen Wegen verloren gegangen.

Musik gehört zwar immer noch zum guten Ton der meinungsbildenden Eliten, aber nicht zuletzt mit Blick auf die in der Schule erlebte Praxis und einer unter dem Diktat der Ökonomie stehenden Schule hat die gutsituierte Bildungsschicht ihren Führungsanspruch hier verloren. Chancen für mehr Vielfalt und Teilhabe werden eher in der Digitalisierung gesucht, Demokratiebildung wird eher anderen Lernfächern zugeordnet.

Dabei wurde hier bisher vom Gymnasium geredet, der einzigen Schulform, die vom eklatanten Fachkräftemangel noch nicht betroffen ist, sodass hier der Musikunterricht zumindest noch im bedrängten Rahmen der ausgewiesenen Stundentafeln erteilt werden kann. Auch im Gymnasium ist Musik längst einsilbig geworden: In einem weitgehend einstündigen Unterricht finden sich keine Räume, in denen das Ich im gemeinsamen Wir zu sich selbst finden kann. Wie kann überhaupt Teilhabe im System Schule gelingen, das geprägt ist von den Exklusionsmechanismen des Wertens und Bewertens? Kann von Teilhabe überhaupt gesprochen werden, wenn sich Schule in einem selbstreferenziellen Selfish-System (Peter Sloterdijk) bewegt, einem geschlossenen Regelkreis, der nur das eine Prinzip Unterricht kennt, und ein Musikunterricht als einstündige Alibiunternehmung das Lernen im Leben nahezu verhindert? Wenn Musik zu einem lebenslangen Besitz werden soll, dann muss es bereits in der Schule darum gehen, über den eigenen Tellerrand hinauszublicken, um damit eine Teilhabe für das Leben nach der Schule anzubahnen: Dazu dienen Kooperationen mit Musikschulen, der Kirchenmusik, Vereinen der Amateurmusik. In dieser Weise muss an dem Verständnis, dass Musik kein Lernstoff ist, sondern sich in sozialen Praxen immer neu ereignen muss, gearbeitet werden.

Gestärkt werden muss der Musikunterricht gerade an den Schulformen, wo der Fachkräftemangel am größten ist, also in den Grundschulen und allen Formen der Sekundarschulen jenseits des immer noch gut versorgten Gymnasiums. Gerade hier brauchen Kinder und Jugendliche Unterstützung, wird doch im freien künstlerischen Denken und Handeln Teilhabe dadurch ermöglicht, dass sich solche Weltzugänge komplementär zum üblichen schulischen Lernen stellen, das sich auf den reibungslosen Ablauf des Stofflichen konzentriert. In der Auseinandersetzung mit Musik kann es gelingen, solch ein im Lebensraum Schule verlorenes Gleichgewicht wiederherzustellen. Musik ermöglicht Kommunikation, sie vermag es, soziale Bindungen herzustellen, unterstützt den Spracherwerb. Das ist allerdings nur möglich, wenn die Musik selbst in ihren unterschiedlichen Sprachen zu Wort kommen darf: Nicht die uniformierte Musik einer »Bestengesellschaft« schafft Teilhabe, es sind die unterschiedlichen Dialekte der musikalischen Stilistiken aus aller Welt, die ein gemeinsames Miteinander ermöglichen, wenn im Musizieren und Reflektieren die verschiedenen Kulturen als Kulturalisierungen erfahrbar und als Produkt der eigenen Kultur erkennbar werden.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 3/2025.