Welche Rolle spielt das Theaterspielen in der Schule für die Persönlichkeitsentwicklung von Schülerinnen und Schülern?
Theater stellt einen Erfahrungsraum dar, in dem Schülerinnen und Schüler ihre Identität erkunden können. Besonders für jene, die leider oftmals nicht als klassische »Leistungsträger« eingestuft werden, kann Theater eine Möglichkeit für Erfolgserlebnisse sein, sei es durch Bühnenpräsenz, kreatives Schreiben oder den Mut, sich zu zeigen. So kann das Selbstbewusstsein gestärkt, das Selbstbild verbessert und oft die gesamte Einstellung zur Schule verändert werden.
Zudem fördert Theater soziale Interaktion. In einer Zeit digitaler Kommunikation zwingt es zur direkten Auseinandersetzung, bei der Jugendliche lernen, sich aufeinander einzulassen, zuzuhören und gegenseitig füreinander Verantwortung zu übernehmen. Theater stärkt so nicht nur die Persönlichkeit, sondern auch die Wahrnehmung von Zusammenhalt, insbesondere vor dem Hintergrund interkulturellen Zusammenlebens und bietet damit unter anderem auch eine Chance der integrativen und inklusiven Partizipation.
Welche Eigenschaften und Kompetenzen werden konkret mit dem Theaterspielen gefördert?
Das hessische Kerncurriculum Darstellendes Spiel betont die ästhetische Wahrnehmung, körperliche Ausdrucksfähigkeit und gesellschaftliche Reflexion. Eine Schlüsselkompetenz hierbei ist die Kommunikation, bei welcher Schülerinnen und Schüler lernen, ihre Stimme bewusst einzusetzen, Körpersprache zu kontrollieren und ihre Botschaften klar zu vermitteln – eine Fähigkeit, die ihnen z. B. auch in Präsentationen oder Bewerbungsgesprächen zugutekommt. Richtig umgesetzt können mehrsprachige Schülerinnen und Schüler lernen, dass Theater unabhängig von Sprache und Hautfarbe alle gleichbehandelt.
Theater fördert zudem Empathie. Wer in eine Rolle schlüpft, versetzt sich in andere Perspektiven. Das hilft, Mechanismen von Ausgrenzung zu verstehen und Vorurteile zu hinterfragen – ein zentraler Aspekt unserer vielfältigen Gesellschaft. Gerade in der Arbeit mit biografischen Elementen oder dokumentarischen Stücken setzen sich die Jugendlichen intensiv mit aktuellen gesellschaftlichen Fragen wie Krieg, Antisemitismus etc. auseinander.
Auch Frustrationstoleranz und Selbstreflexion wachsen: Eine Szene gelingt selten auf Anhieb. Jugendliche lernen in der gemeinsamen Theaterarbeit, Kritik anzunehmen und Fehler als Chance zu begreifen. Diese Fähigkeit ist essenziell für Schule, Beruf und gesellschaftliche sowie demokratische Teilhabe.
Welche Bedeutung hat nach Ihrer Erfahrung das Theaterspielen in allgemeinbildenden Schulen im Vergleich mit anderen künstlerischen Fächern und im Fächerkanon allgemein?
Theater verbindet Sprache, Bewegung, Musik, Bildende Kunst und Bühnentechnik – Regie, Dramaturgie und Darstellung. Im Vergleich mit Musik oder Kunst bietet es also vor allen Dingen eine Mehrdimensionalität an Tätigkeiten, in der alle Teilnehmenden ihre Kompetenzen bestmöglich einsetzen.
Eine wichtige Erfahrung, die ich selbst in der Theaterarbeit machen durfte, ist das Stück »A.N.D.ers«, das ich mit meinen Schülerinnen und Schülern entwickelt habe und welches persönliche Erfahrungen mit Rassismus aufgreift und verarbeitet. Viele Jugendliche haben hier erstmals ihre eigenen Geschichten und Wurzeln vertieft – diese Erfahrung hat ihr interkulturelles Selbstbewusstsein gestärkt und ihre Wahrnehmung für gesellschaftliche Vorurteile und Aufgaben geschärft. Dass wir mit »A.N.D.ers« die Auszeichnung des Fair@school-Preis von Cornelsen gewonnen haben, bestätigte dem Ensemble, dass ihre Stimmen gehört werden. Im Jahr 2023 nahm ich mit einer Schülergruppe am bundesweiten Schultheatertreffen der Initiative kulturelle Integration aus Anlass des rassistisch motivierten Anschlags in Hanau teil. Der Anschlag in Hanau am 19. Februar 2020 zeigt, wie wichtig es ist, über Rassismus zu sprechen – nicht abstrakt, sondern durch persönliche Geschichten. Die Auseinandersetzung mit realen Ereignissen schärft das Bewusstsein für gesellschaftliche Verantwortung und zeigt, dass Theater Missstände thematisieren kann.
Trotz dieser Stärken hat Theater noch nicht den Platz im Lehrplan, den es haben sollte. Während Musik und Kunst etabliert und auch als Leistungskurs in der Oberstufe wählbar sind, bleibt das Fach Darstellendes Spiel oft ein Wahlfach oder eine AG. Dabei fördern kreatives Arbeiten und ästhetische Bildung nicht nur kognitive Fähigkeiten, sondern auch Schlüsselkompetenzen für eine demokratische Gesellschaft.
Gerade in einer vielfältigen Gesellschaft brauchen wir Räume, in denen junge Menschen Empathie und soziale Verantwortung entwickeln. Theater leistet hier einen entscheidenden Beitrag für Persönlichkeitsbildung und eine offene demokratische Gesellschaft.