Theodor Storms Novelle »Der Schimmelreiter« brachte die Sache ins Rollen. 1968 hatten die Mädchen der neunten Klasse eines altsprachlichen Münchner Mädchengymnasiums den Text gelesen und die Filmversion angesehen – und jetzt jede Menge Fragen zur Verfilmung, die die Deutschlehrerin nicht beantworten konnte. Über den Kontakt zu Edgar Reitz, der damals an der ersten Filmschule der Bundesrepublik, der »Ulmer Hochschule für Gestaltung« lehrte, entwickelte sich der Plan, Film in einem normalen Gymnasium zu unterrichten. Man einigte sich mit der Kunstlehrerin, dass man ihre Unterrichtsstunden benutzen durfte.
Die Direktorin holte sich die Genehmigung der Schulbehörde dazu ein. Ein Lehrplan wurde erstellt, und im Laufe von mehreren Wochen wurden 16 Stunden Unterricht in der Klasse abgehalten. Und so unternahm der damals 35-jährige Edgar Reitz ein medienpädagogisches Experiment: Zwei Monate lang kam er, mit einem Faible für Didaktik, immer samstagmorgens ins Luisengymnasium, verwandelte das Klassenzimmer in ein kleines Filmexperimentierstudio und erklärte haarklein, wie Film funktioniert, lehrte Technik und Ästhetik des Films, damit die Schülerinnen Bewegtbilder besser verstehen und selbst zu Film-Autorinnen werden konnten. Ein junger Kameramann dokumentierte den Unterricht für eine Fernsehdokumentation, die später im bayerischen Dritten Programm ausgestrahlt wurde. Der Demokratisierung der medialen Öffentlichkeit, wie das heute heißt, kann man darin gewissermaßen beim Entstehen zusehen. Eine Revision dieses zurückliegenden Schulklassen-Experiments und seiner Folgen erzählt der aktuelle Dokumentarfilm »Filmstunde 23« in einer Mischung aus Archivmaterial und essayistischen Passagen.
Zunächst also untersuchte die Gruppe systematisch sämtliche Möglichkeiten der Kamerahandhabung. Die Mädchen definierten Kamerabewegungen, Schwenks, Fahraufnahmen, Objektivbrennweiten, Schärfe, Laufgeschwindigkeit der Kamera (Zeitlupe, Zeitraffer) und untersuchten die Wirkungen von Licht, Perspektive und Ton. Für welche Inhalte, welche Atmosphäre bieten sich welche filmischen Mittel an? Solide erlernte Handwerklichkeit kostet Anstrengung und gut begründete didaktische Bildungsarbeit.
Reitz diskutierte mit den Schülerinnen die Vor- und Nachteile des Autorenkinos. Dass das Handwerk des verstehenden Bildsehens und -gestaltens nicht nur gegen Desinformation und Banalitäten im Netz imprägnieren kann, sondern auch die eigenen Ausdrucksmöglichkeiten stärkt, beweisen die im Unterricht entstandenen Super-8-Filme der Schülerinnen, wobei jedes Mädchen einen eigenen Kurzfilm entwickelte und drehte.
In Zeiten permanenter Gegenwart medialer Bilder konstatiert eine damalige Schülerin: »Wir haben gelernt, anders hinzugucken, wenn wir einen Film sehen.« Dies liefert vielfältige Denkanstöße zur Relevanz des Bildkompetenzerwerbs in Zeiten eines ubiquitären Bewegtbildkonsums. Heute entstehen täglich mehr Bilder und Bewegtbilder als in Hunderten Jahren zuvor – was ein Gewinn ist, aber auch zum Problem wird. Die eigentlich emanzipativ nutzbaren Potenziale des intelligenten Sehens, des personal durchdrungenen Gestaltungshandwerks und des imaginativen Ausdrucks- und Darstellungsvermögens sind darin geopfert zugunsten einer gestalterisch verkümmerten gesellschaftlichen Ad-hoc-Kommunikationsfunktion, in der hilfloses inhaltliches Meinen und gestalterisches Versagen eine hybride Allianz eingehen. Wenn man Film als »Sprache«, als Kunst- und Mitteilungsform versteht, könnte man angesichts der vielen TikTok- oder YouTube-Schnipsel verzweifeln. Gerade die Bildkultur, wie sie sich entwickelt, hat zu einer Inflation geführt, zu einem Schrotthandel mit Bildern. Es ist die alte Diskussion: Wenn man die Hochkultur abschafft, geht die Populärkultur auch ein. Sie ist immer ein Spiegelbild des Großen.
Edgar Reitz’ ehrgeiziger Traum, das Fach Film fest im schulischen Curriculum zu verankern, scheiterte am Desinteresse der Politik. Gleiches gilt auch für die kulturelle Bildung und den Kunstunterricht. Seit 1968 ist die die Relevanz von Kunst in der schulischen Bildung in der Folge von gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen infrage gestellt worden. Zwar gibt es immer noch Stimmen, die die Bedeutung der Kunst als integralen Bestandteil einer ganzheitlichen Bildung betonen, aber bis heute hängt es von den Prioritäten der Kultusministerien, der Schulleitungen und des Lehrpersonals ab, ob, wie intensiv und wie systematisch Bilder im Unterricht thematisiert werden. Dabei ist das Wissen darum, wie Bilder entstehen, welcher Mittel sie sich bedienen und wie die Bilder als Sprache funktionieren, essenziell, um die Welt an sich zu verstehen. Bilder bilden den aktuellen Zeitgeist ab, sie erzählen von Politik und Kultur, vom Guten und Schlechten einer Ära, bilden sowohl Lügen als auch Wahrheiten ab. Ein unmittelbareres, auch unbestechlicheres Bild von Vergangenheit und Gegenwart, von Geschichten und Historie, kann es nicht geben, das macht Edgar Reitz schon 1968 den 14-jährigen Teilnehmerinnen seiner Schul-Bilderklasse klar.
Ein inspirierender und handlungsorientierter Kunstunterricht ermöglicht Kindern nicht nur den Zugang zum künstlerischen Tun, sondern eröffnet ihnen auch die Welt der Kunst als Raum für persönlichen Ausdruck, Reflexion und kulturelle Teilhabe. Die Verbindung von Praxis, Theorie und sozialem Lernen macht Kunstunterricht zu einer einzigartigen Erfahrung, die über die Schule hinaus wirkt. Der Kunstunterricht stärkt nicht nur die individuellen Fähigkeiten, sondern trägt auch zur Schaffung einer kulturell vielfältigen und partizipativen Gesellschaft bei. Die Reduzierung oder gar der Ausfall des Kunstunterrichts schränkt die Entwicklung von Schülerinnen auf individueller, kultureller und gesellschaftlicher Ebene ein. Ein mangelnder Fokus auf ästhetische Bildung führt zu langfristigen Nachteilen – sowohl für die Einzelnen als auch für die Gesellschaft insgesamt.