Mit 18 wollte Mirjam Wenzel, geboren in Frankfurt und aufgewachsen im Hochtaunuskreis, raus aus dem ländlich-provinziellen Milieu von Karlsruhe, wohin sie als Jugendliche gezogen war. Kaum hatte sie 1991 das Abitur in der Tasche, ging die junge Frau nach Israel in einen Kibbuz, Anfang der 1990er Jahre wohl eine der letzten real existierenden sozialistischen Lebensformen: Die Bewohnerinnen und Bewohner teilen alles miteinander, jeder verdient das Gleiche. Der Kibbuz, den sie wählte, hieß Yad Hanna – nach der ungarisch-jüdischen Widerstandskämpferin Hannah Szenes, die im März 1944 mit anderen jüdischen Frauen und Männern mit dem Fallschirm hinter der deutschen Front absprang, mit der Absicht, ungarische Juden zu retten – ein Kommando mit tödlichem Ausgang. In Yad Hanna lebten damals sowohl Überlebende der Shoah wie auch Jeckes, umgangssprachlich für deutschsprachige jüdische Einwanderer der 1930er Jahre, und deren Nachkommen – in diesem Umfeld traf die künftige Literaturwissenschaftlerin auf ein ganz anderes jüdisches Narrativ, als sie es von zu Hause her kannte: Die Menschen verstanden sich nicht als Opfer, die von fanatischen deutschen Antisemiten zur Schlachtbank geführt worden waren, sondern als selbstbewusste Jüdinnen und Juden, die aktiv Widerstand geleistet hatten. »Diese zutiefst gespaltene, divergierende Erinnerung an ein und dasselbe Erlebnis« beschäftigt Mirjam Wenzel bis heute: als Wissenschaftlerin, als Kuratorin und auch als Direktorin des Frankfurter Jüdischen Museums.

Wäre es nach dem Willen ihres Vaters Joachim Wenzel, Richter und bis 2002 Vizepräsident des Bundesgerichtshofs, gegangen, wäre sie sicher eine gute Juristin geworden. Tatsächlich hat sie sich etwa in ihrer Dissertation an der Ludwig-Maximilian-Universität München mit Rechtsprechung beschäftigt: »Gericht und Gedächtnis. Der deutschsprachige Holocaust-Diskurs der sechziger Jahre« (2009). Ob es dann eher dem Einfluss ihrer Mutter, die Deutsch im Lehramt studiert hatte, zu verdanken ist, dass Mirjam Wenzel nach ihrem Kibbuz-Aufenthalt sich dafür entschied, Literatur zu studieren, kann man nur mutmaßen. Anfang der 1990er Jahre, mitten in der Nachwendezeit nahm sie jedenfalls das Studium von Literaturwissenschaft, Theater, Film und Fernsehwissenschaft sowie Politik an der Freien Universität Berlin auf: »Damals hat mich die Situation angezogen, die durch den Mauerfall entstanden war, diese historisch einmalige Zeit: viel Leerstand im Osten Berlins, zahllose Künstlerateliers, die dann zu Bars und Läden wurden, wenig Kosten. Ehrlich gesagt lebten wir in Berlin-Mitte in jenen Tagen ein bisschen den Traum vom Kinderkommunismus, den ich im Kibbuz nicht angetroffen hatte.« Während dieser Zeit des Studiums sammelte Wenzel erste Erfahrungen als Ausstellungskuratorin etwa als künstlerische Leiterin des Medienkunstfestivals »novalog – new media experiences« (Berlin/Tel Aviv 2001) in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut Tel Aviv oder als Co-Kuratorin der Ausstellungen »Wonderyears« über die Rolle der Shoah und des Nationalsozialismus in der heutigen israelischen Gesellschaft in der Gesellschaft für Bildende Kunst in Berlin 2003.

Noch vor ihrem Hochschulabschluss ging sie ein weiteres Mal nach Israel, dieses Mal als Gasthörerin am Minerva Institute for German History der Tel Aviv University. Das Reisegeld verdiente sie sich als freie Mitarbeiterin der Friedrich-Ebert-Stiftung in Tel Aviv, für die sie eine Studie über die Geschichte der israelischen Frauenbewegung verfasste. In diese Zeit fallen einschneidende politische und persönliche Erlebnisse für Wenzel, wie die Ermordung Jitzchak Rabins am Abend des 4. November 1995 auf der großen Friedenskundgebung auf dem Platz der Könige Israels, an der auch sie teilgenommen hatte. »Im Nachhinein war dieser Tag eigentlich der Anfang vom Ende des Friedensprozesses«, resümiert sie rückblickend. In den 1990er Jahren – bestimmt vom Ausbruch der zweiten Intifada und von 9/11 – machte sie ihre ersten Ausstellungen in Berlin. Der Twen teilte die Hoffnung auf eine Aussöhnung zwischen Israeli und Palästinensern, ebenso wie zwischen Juden und Deutschen der dritten Generation nach der Shoah: »Fakt war allerdings, dass alles bereits erodierte«, stellt sie heute rückblickend fest, »die Gesellschaft hat sich seit damals massiv verändert. Und diese Veränderung im neuen Jahrtausend mitzubekommen war schmerzlich und ist es immer noch.«

Diesen Tendenzen zum Trotz hat sich Mirjam Wenzel für die Arbeit als Aufklärerin und für den Dialog entschieden. Eine große Überschrift ihres Lebens ist seit diesen Tagen mit den Begriffen »individuelles und kollektives Gedächtnis sowie jüdische Erinnerung und deutsche Gedenkkultur« zutreffend benannt. Sie ist Verfasserin zahlreicher Aufsätze und Essays zu kulturtheoretischen, ästhetischen und museologischen Fragen, zur Kritischen Theorie, insbesondere zu Siegfried Kracauer, Theodor W. Adorno und Hannah Arendt, zur Repräsentation des Holocaust in bildender Kunst, Fotografie und Film sowie zur jüdischen Kultur in Geschichte und Gegenwart. Sie erzählt Geschichte, aber nicht nur, sie sammelt und präsentiert sie auch an ihrem Lieblingsort – im Museum.

Im Oktober 2007 wurde sie Leiterin der Medienabteilung am Jüdischen Museum Berlin und war damit zuständig für die Vermittlung jüdischer Geschichte und Kultur in digitalen und gedruckten Medien. Sie entwickelte maßgeblich die Onlinestrategie des Museums und gilt seither als Expertin für Fragen des digitalen Wandels an Museen. Seit 2016 ist Mirjam Wenzel als Nachfolgerin von Raphael Gross, heute Präsident des Deutschen Historischen Museums, Direktorin des Jüdischen Museums Frankfurt, des ersten kommunalen Jüdischen Museums in der Bundesrepublik Deutschland.

Seit das Frankfurter Museum 2020 um einen Anbau erweitert wurde, haben sich die Besucherzahlen des Hauses verdoppelt. Es ist fest verwurzelt in der jüdischen Stadtgeschichte und offen für Besucher aus aller Welt. Wenzels Ideen prägen das Haus nun seit mittlerweile acht Jahren: Ihn ihren Augen ist es ist eine Grundfrage für Jüdische Museen, ob man jüdische Geschichte als Teil der allgemeinen Geschichte betrachtet oder als partikulare Geschichte. »Ich bin überzeugt«, sagt sie, »es ist eben beides. Jüdische Geschichte ist sowohl ein integraler Bestandteil der lokalen wie regionalen Geschichte in Europa und weist zugleich Besonderheiten auf, die mit der jüdischen Tradition und Religionspraxis wie auch der Verfolgungserfahrung zu tun haben. Zugleich ist – vor allem infolge der Shoah – die Sensibilität für und das Wissen über das Judentum heute sehr gering. Daher bedarf es Jüdischer Museen, um dem entgegenzuwirken und immer wieder zu fragen ›Welche Aspekte der jüdischen Kultur und Erfahrung haben eine partikulare Geschichte? Und in welchen Zeiten und unter welchen Gesichtspunkten war und ist jüdische Geschichte eingebunden und geprägt von gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen und damit Bestandteil der allgemeinen Geschichte?‹ Das muss immer neu ausgehandelt werden. Unsere Aufgabe als Jüdische Museen ist es, diesen Aushandlungsprozess voranzutreiben.«

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2023.