Die Literaturwissenschaftlerin und Kunsthistorikerin Britta Jürgs hat 1997 einen Verlag gegründet, der sich »vergessenen« Autorinnen widmet und sie wieder oder erstmals in die Öffentlichkeit holt. Auf der Leipziger Buchmesse 2024 wurde ihr AvivA Verlag im März mit dem renommierten Kurt-Wolff-Preis ausgezeichnet. Seit einem Vierteljahrhundert bringe der Verlag »mit nicht nachlassender Energie und großem Spürsinn die weiblichen Stimmen der Weltliteratur zur Geltung«, teilte das Kuratorium der Kurt-Wolff-Stiftung mit. Quer durch die Epochen, Kontinente und Genres sei so »eine kleine Universalbibliothek entstanden, in der Schriften von Christine de Pizan neben Reiseberichten aus China, Feuilletons neben Romanen und Biografien stehen, Dichterinnen auf bildende Künstlerinnen und Filmemacherinnen treffen.«

Die Liebe zu den Büchern wurde durch Vorlesen schon in früher Kindheit gefördert, auch wenn es kein Künstler- oder Intellektuellenhaushalt war, in dem Britta Jürgs aufgewachsen ist. Geboren in Frankfurt am Main zog sie mit ihren Eltern aufs Land, als sie ins Grundschulalter kam. »Das Interesse an Literatur war schon immer da, und ich habe auch wirklich alles querbeet gelesen. Absolut alles, was ich finden konnte, in Büchereien wie im elterlichen Bücherregal. Mein Interesse an Autorinnen wurde aber durch den Deutschunterricht gefördert, in dem auch Schriftstellerinnen und ihre Werke behandelt wurden. Beispielsweise erinnere ich mich an ein Referat über den Roman ›Kindheitsmuster‹ von Christa Wolf in der Mittelstufe.«

Schon in der Schule lernte sie Autorinnen wie Ingeborg Bachmann, Irmgard Keun oder Marieluise Fleißer kennen und schätzen: »Das war wirklich sehr inspirierend und rückblickend durchaus prägend für mich.« Ein Germanistik-, Romanistik- und Kunstgeschichtsstudium in Frankfurt am Main, Paris und Berlin folgte, wobei es zu dieser Zeit nur wenige Seminare über Schriftstellerinnen und Künstlerinnen gab. Nach dem Studium arbeitete sie eine Zeitlang in einem Verlag in Südfrankreich. Währenddessen befasste sie sich auch mit den Frauen im Surrealismus und stellte fest, dass die kreativen Frauen aus diesem Umkreis im deutschsprachigen Raum bis auf Meret Oppenheimer kaum bekannt waren. Eine Lücke, die sie beheben wollte: »Ich wollte die Bücher in der Hand halten, die ich vermisst habe.«

Frühling in Berlin

Zurück in Berlin gründete Britta Jürgs 1997 den AvivA Verlag. »Aviva« kommt aus dem Hebräischen und ist die weibliche Form von »Frühling«. Der Name steht für den weiblichen Fokus des Verlags, aber auch für dessen jüdischen Schwerpunkt. »Angefangen bei den Surrealistinnen, den Vertreterinnen des Expressionismus, der Neuen Sachlichkeit bis hin zum Dadaismus: Diese Verbindung von Kunst und Literatur hat mich interessiert. Das war von Anfang an ein Schwerpunkt des Verlages. Oder eben auch Autorinnen, die ich in Antiquariaten entdeckte und die mich begeisterten. Ich wollte auf die meist jüdischen Schriftstellerinnen aufmerksam machen, die während des Nationalsozialismus verfolgt, vertrieben und zum Teil auch ermordet wurden. Die Autorinnen können wir nicht zurückholen, aber ihre Texte. Und den Menschen diese Texte nahezubringen, ist mir ein wichtiges Anliegen.«

»Die Bräutigame der Babette Bomberling«

Alice Berends Buch »Die Bräutigame der Babette Bomberling« ist solch ein gehobener Schatz. Ein Roman von 1915 über eine Sargfabrikantengattin, die einen Bräutigam für ihre Tochter sucht. »Alice Berend war eine Autorin, von der ich noch nie etwas gehört hatte, bis ich in einem Antiquariat auf ihren Roman mit dem seltsamen Titel stieß. Der Beginn des Romans hat mich sofort gefesselt. Ich habe das Buch gekauft, zu Hause verschlungen und wollte es unbedingt wieder herausbringen. Ich fing also an zu recherchieren, wer diese Alice Berend eigentlich war. Ich fand heraus, dass sie eine sehr erfolgreiche Autorin des beginnenden 20. Jahrhunderts war, deren Romane bei S. Fischer in 100.000er Auflagen erschienen waren. Aufgrund ihrer jüdischen Herkunft musste sie emigrieren und starb krank und mittellos 1938 in Florenz. Alice Berend war Ende der 1990er Jahre, als ich ihre Werke erstmals wieder auflegte, völlig vergessen. Ich machte mich auf die Suche nach ihren Erben und fand schließlich ihre Enkelin.

Inzwischen ist Berends Werk rechtefrei, und auch andere Verlage geben Bücher von ihr heraus. Aber ich kann sagen, dass ich bei ihr wie auch bei anderen ›vergessenen Autorinnen‹ Pionierarbeit geleistet habe. Im Zusammenhang mit der Veröffentlichung ihrer Werke wurde auch eine Straße in Berlin-Tiergarten nach ihr benannt, was mich sehr freut.«

Die von Britta Jürgs verlegten Bücher sind allesamt Herzensbücher, die sie begeistern müssen. Eine gewisse Selbstironie und feiner Humor spielen dabei eine wichtige Rolle. »Eine weitere gute Eigenschaft, um meine Begeisterung zu wecken, ist, wenn Bücher, die von Frauen in den 1920er Jahren handeln, mir bis heute sehr aktuell vorkommen. Was treibt die Figuren um? Wo kann ich eine gute Parallele zu heute ziehen? Es geht immer darum, etwas über deren Zeit zu erfahren – beispielsweise die 1920er Jahre – und zugleich etwas über unsere Gegenwart zu lernen. Allen voran muss mich aber die Sprachqualität überzeugen. Das ist das A und O.«

Der wirtschaftliche Aspekt

Reich werden kann man mit einem kleinen unabhängigen Verlag eher nicht, was nicht erst für das 21. Jahrhundert gilt. Von Kurt Wolff, der unter anderem Franz Kafka und Heinrich Mann verlegte, ist die Frage überliefert, wie man ein kleines Vermögen machen könne: »Indem man ein großes Vermögen hat und einen Verlag gründet.« Doch obgleich Britta Jürgs kein Vermögen hat, existiert ihr Verlag immerhin schon seit mehr als einem Vierteljahrhundert. Eine 40-Stunden-Woche kennt sie nicht, Selbstausbeutung gehört auch dazu − und bis heute ist sie eine »One-Woman-Show«, unterstützt durch freie Mitarbeiterinnen, ein Pressebüro und vier Verlagsvertreterinnen. Aber sie liebt ihre Arbeit.

»Früher habe ich etwa vier Bücher im Jahr herausgegeben, inzwischen sind es oft mehr als zehn. Es ist mir auch ein wirkliches Anliegen, die Bücher, die ich einmal entdeckt habe, nicht gleich nach dem Erscheinen wieder in die Versenkung geraten zu lassen.« Manche ihrer Entdeckungen wurden sehr erfolgreich, wie beispielsweise der Roman »Das weiße Abendkleid« von Victoria Wolff über vier Frauen und ein Kleid im Paris der 1930er Jahre. Bei anderen braucht es einen längeren Atem.

Der Kurt-Wolff-Preis ist in diesem Zusammenhang nicht nur eine Würdigung der verlegerischen Arbeit, sondern bietet die Möglichkeit, neue Buchprojekte zu verwirklichen und vergriffene Bücher aus ihrem Verlag wieder neu aufzulegen. Über 120 Bücher hat sie inzwischen im Programm. Gelesen werden sie nicht nur von Frauen: »Bei historischen Titeln ist das deutlich gemischter als bei Romanen aus den 1920er Jahren. Auf den Social-Media-Kanälen ist die Verteilung etwa 1:2, doch auf den Messen und Büchermärkten wie auch bei den Verlagsbestellungen ist es relativ ausgewogen.«

Ans Aufhören denkt die 59-Jährige noch lange nicht. Für ihre und die Zukunft des Verlages wünscht sie sich weiterhin entdeckungsfreudige Buchhändlerinnen und -händler sowie Leserinnen und Leser – und noch mehr Sichtbarkeit. Und »ich wünsche mir, dass es in Zukunft eine strukturelle Verlagsförderung für kleinere Verlage gibt. Damit Vielfalt auf dem Büchermarkt weiterbestehen kann und wir auch in Zukunft noch Bücher jenseits des Mainstreams machen können.«

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 4/2024.