Der erste Versuch: Das Mädchen steht mit ihren Eltern in Berlin-Friedrichshain am Märchenbrunnen. Der Brunnen wurde schon vielfach umrundet, die Zeit schleicht dahin, am Abend Rückkehr nach Leipzig. Der zweite Versuch: Zusammen mit ihren Eltern quetscht sich das Mädchen in den Kofferraum eines Wagens, angeschmiegt an seine Eltern schläft es ein. An der Grenze auf einmal Männer mit Maschinengewehren, die Eltern werden abgeführt, das Mädchen kommt ins Kinderheim, die Großmutter holt es schließlich zu sich. Constanze Neumanns autobiografischer Roman erzählt die Geschichte eines Aufwachsens im Ost-West-Verhältnis. Die Eltern, beide Musiker, werden beim zweiten Fluchtversuch aus der DDR verhaftet, sie werden von der Bundesrepublik aus dem Gefängnis freigekauft. Ihre Tochter kann schließlich im Rahmen der Familienzusammenführung zu ihnen übersiedeln. Das Buch handelt von den Schwierigkeiten des Ankommens, von den Problemen, einen Arbeitsplatz zu bekommen, von der haftbedingten Erkrankung der Mutter, die es ihr trotz eisernen Übens unmöglich macht, als Profimusikerin zu arbeiten. Es geht um das Fremdsein im Westen, um ungewohnte Bräuche wie den Rheinischen Karneval, um Dialekte und Sprachfärbungen, um einen immer fremder werdenden Osten, um scharfen Antikommunismus, um Scham und Aufbruch. Dominierend ist der Wunsch der Eltern, insbesondere des Vaters, nach Anpassung im ersehnten Westen; gleichzeitig bleibt der Wunsch, die familiären Fäden in die DDR nicht zu kappen. Besonders einprägsam sind die gemeinsamen Urlaube mit der Großmutter in der damaligen Tschechoslowakei: die Großmutter in Unterkünften für DDR-Bürger, die Ich-Erzählerin mit ihren Eltern in deutlich besser ausgestatteten, nur für Bürger aus dem westlichen Ausland zugänglichen Hotels. Trotz der berührenden und oftmals traurigen Geschichte schlägt der Erzählton nie ins Jammern und Klagen um, er ist vielmehr lakonisch, fast schon distanziert beobachtend und gerade dadurch besonders berührend. Sehr lesenswert.
Constanze Neumann. Das Jahr ohne Sommer. Berlin 2024