Im Mai und Juni 1940 müssen sich viele deutsche Exilanten, die vor dem Nazi-Regime nach Frankreich geflohen sind, ein zweites Mal auf die Flucht machen. Durch das Vorrücken der deutschen Armee in Frankreich gerät der sicher geglaubte Zufluchts- zum neuen Gefahrenort. Unter diesen Menschen befinden sich zahlreiche prominente Künstler und Intellektuelle. Für sie wird es besonders kritisch, denn mit der deutschen Armee kommt die Gestapo mit Namenslisten ebensolcher Prominenten, die sie zurück nach Deutschland deportieren will. Uwe Wittstock zeichnet in seinem höchst informativen Buch zunächst die Flucht einiger dieser Menschen quer durch Frankreich. Als Deutsche in Frankreich plötzlich unerwünscht werden sie vielfach interniert und müssen zum Teil unter unerträglichen Bedingungen in Lagern um ihr Überleben kämpfen. In den USA gibt es derweil Menschen, die sich um das Schicksal zum Beispiel von Lion Feuchtwanger, Heinrich und Golo Mann, Walter Benjamin, Hannah Ahrendt, Franz Werfel, Max Ernst und vielen anderen sorgen. Allen voran Varian Fry, ein junger Journalist. Er ruft in seiner Heimat das »Emergency Rescue Committee« ins Leben und beginnt, für die Flucht der in Frankreich Gestrandeten Geld zu sammeln. Und er belässt es nicht beim Geldsammeln, sondern begibt sich selbst in den Hexenkessel Marseille. Hier gelingt es ihm, auf unterschiedlichen, teils abenteuerlichen und durchaus lebensgefährlichen Wegen, vielen Menschen mit Pässen, Visa, Fluchtwegen den Weg nach Übersee zu ermöglichen. Von Frys mutigem Engagement, seinen überzeugten Helfern, aber auch von vielen Steinen, die seiner Arbeit sowohl von französischer als auch von amerikanischer Seite in den Weg gelegt werden, berichtet Wittstock dezidiert. Was sich manchmal wie ein Abenteuerroman liest, beruht auf oft erschütternden Dokumenten. Gedankt wurde es Varian Fry zu Lebzeiten nicht. Erst postum wurde ihm von der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem der Titel »Gerechter unter den Völkern« verliehen.

Uwe Wittstock. Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur. München 2024

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 4/2024.