Ruft man sich Hannah aus Jeanine Meerapfels Film »Malou« in Erinnerung oder die Figur Anna aus ihrem Film »Annas Sommer« oder Sulamit Löwenstein aus »Der deutsche Freund«, dann entwickelt man als Zuseher nach und nach das Gefühl, als kenne man die Filmemacherin Jeanine Meerapfel persönlich. Denn in einigen ihrer Filme lassen sich Bezüge auf ihre Herkunft entdecken, sie gehören in die Kategorie der Autofiktion.
Jeanine Meerapfel wuchs in Argentinien als Tochter deutsch-jüdischer Emigranten auf. Von 1961 bis 1964 besuchte sie die Journalistenschule in Buenos Aires und arbeitete als Redakteurin und freie Journalistin. Gleichzeitig studierte sie Drehbuch bei Simón Feldman. 1964 kam sie nach Deutschland und studierte mit einem Stipendium des DAAD vier Jahre am Institut für Filmgestaltung der Hochschule für Gestaltung in Ulm. In den 1970er Jahren arbeitete Meerapfel als Filmkritikerin und leitete Filmseminare in Ulm und an verschiedenen Goethe-Instituten.
Wenn Meerapfels Filme auf Kinoleinwand oder am Bildschirm ablaufen, dann vergeht die Zeit nicht, im Gegenteil, als Zuschauer gewinnt man den angenehmen Eindruck, man bekäme Zeit geschenkt: Die Filmemacherin Meerapfel verzichtet auf alles zeitgeistig Schnelle, Hektische, Atemlose, Drastische. Sie erzählt behutsam, mit stehenden Bildern, gibt ruhigen, fast einsilbigen Dialogen Raum oder fungiert selbst als Erzählerin aus dem Off wie in »Eine Frau«. Neben Meerapfels Stimme verleiht auch die Musik des griechischen Komponisten und Klarinettisten Floros Floridis einem Meerapfel-Film seinen typischen Klang.
»Als ich ›Annas Sommer‹ im Jahr 2000 vorbereitet habe«, erzählt Meerapfel, »wurde mir gesagt: Wenn du die Geschichte einer jüdischen Familie aus Thessaloniki erzählen willst, musst du auch dort hinfahren. Dort habe ich die alten Orte gesucht, die es kaum noch gibt. Es gab im Altersheim noch jüdische Bewohner, die das sephardische Spanisch gesprochen haben. Ich sprach in heutigem Spanisch, sie in ›Ladino‹, im alten sephardischen Spanisch – und das war eine tolle Erfahrung: Menschen zuzuhören, die diese 500 Jahre alte Sprache sprechen. In dieser Zeit habe ich Floros Floridis kennengelernt, der aus Thessaloniki stammt und ein Freund meiner Freunde ist. Für die Musik von ›Eine Frau‹ hat er 2022 den Kritikerpreis bekommen. Die Musik ist für diesen Film ganz wesentlich.«
Mit jedem neuen Film von Meerapfel, den man anschaut, reist man durch die jüngere Geschichte der Alten und der Neuen Welt, beginnend mit dem frühen 20. Jahrhunderts bis zum Hier und Jetzt mit all seinen politischen und gesellschaftlichen Implikationen. Meerapfel-Filme kreisen um Themen wie Emigration, Frauenschicksale, Identität, jüdisches Leben, Antisemitismus, Holocaust oder Repression unter der Diktatur. Wie war Leben und Überleben für die Menschen des 20. Jahrhundert möglich? Und was wurde aus deren Kindern, aus der nachfolgenden Generation im 21. Jahrhundert?
Die Deutsch-Argentinierin Jeanine Meerapfel gibt darauf zahlreiche Antworten, die immer wieder von persönlichen Elementen inspiriert sind: etwa beim Kinofilm »Malou«, ihrem 1980 entstandenen Langspielfilm-Regiedebüt, der den Preis der Filmkritik – FIPRESCI – beim Festival von Cannes 1981 bekam, mit Ingrid Caven in der Titelrolle und Grischa Huber in der zweiten weiblichen Hauptrolle als Malous Tochter. Mehr als zehn weitere Filme folgten. Die stärksten autofiktionalen Züge trägt Jeanine Meerapfels jüngster Film von 2021, »Eine Frau«, in dem sie reichlich Foto- und Filmmaterial ihres Vaters und seiner Familie verwendet. Ein filmender Vater? Liegt es da nicht nahe, dass Meerapfel nicht weit vom Stamm gefallen ist?
»Ich bin nicht über das Hobby meines Vaters zum Film gekommen. Meine Welt war der Journalismus und dort war ich gut aufgehoben. Ich war ja in Argentinien als Journalistin angestellt und darüber bin ich dann zum Drehbuch gekommen. 1964 kam ich an die Hochschule für Gestaltung in Ulm und habe dort bei Edgar Reitz und Alexander Kluge studiert. In dieser Zeit hat sich allmählich meine Hinwendung zum Film herauskristallisiert.« Schon als Teenager hatte sie sich nur fürs Lesen interessiert, sich selbst bezeichnet sie als »Bücherwurm«: »Alle argentinischen und lateinamerikanischen Schriftsteller (Borges und Cortázar und, und …) habe ich gelesen. Das war meine Welt und alles, was mich interessiert hat. Von dort aus war es nur noch ein Katzensprung zum Journalismus, zur Sprache und zum Ausdruck.«
Ihre Muttersprache ist nicht Spanisch, denn ihre Mutter, Marie Louise Meerapfel, geb. Chatelaine, war Französin und schickte sie in Buenos Aires auf die französische Schule. Meerapfels Vater Carl stammte aus dem badischen Untergrombach bei Bruchsal, wo seine Familie einen Tabakgroßhandel betrieb. 1941 emigrierte er mit seiner Frau und der ersten Tochter gerade noch rechtzeitig über Amsterdam nach Argentinien, wo Jeanine Meerapfel 1943 in Buenos Aires zur Welt kam. Inzwischen lebt die Filmemacherin und derzeitige Präsidentin der Berliner Akademie der Künste seit 60 Jahren in Deutschland, dem Land, aus dem ihre Eltern vor den Nazis flohen. Über Deutschland hätten ihre Eltern immer geschwiegen, sagt Meerapfel: »Das Einzige, was man mitgekriegt hat, war eine Sehnsucht nach bestimmten Gerichten, nach Preiselbeeren, Spätzle oder Erzählungen vom Schwarzwald.«
Wo also ist die Weltbürgerin Jeanine Meerapfel heute zu Hause? »Zu Hause bin ich dort, wo ich bin und in mir selbst – aber auch in meiner Familie, in meinen Filmen und in meiner Arbeit. Zu Hause bin ich dort, wo Freunde für dasselbe einstehen wie ich: für Aufklärung und eine lebendige Erinnerungskultur. Es ist aber kein physischer Ort. Natürlich bin ich in Berlin zu Hause, aber ich kann mich eben auch in Buenos Aires zu Hause fühlen. Jeder Drehort ist bis zu einem gewissen Grad Heimat. Das wird Ihnen jeder Regisseur auch sagen, aber das ist immer zeitlich befristet. Die Hochschule für Gestaltung, eine Geschwister-Scholl-Stiftung, die prägend für meine Entwicklung war, war eine Fortführung des Bauhauses. Dort gab es mehrere Worte, die nicht benutzt wurden. Dazu gehörten ›gemütlich‹ und ›Heimat‹. Wir wollten eine bestimmte Kühle und Sachlichkeit zur Beschreibung der Dinge und Zustände und nicht alles mit einer spießigen Butzenscheiben-Ideologie überdecken. Die falschen Gefühle kamen aus der vorherigen Generation, und die mussten infrage gestellt werden. Dagegen hat sich die 68er-Generation mit Elan gestellt. Das habe ich hautnah mitbekommen und das war Teil meines Lebens, weil ich gesehen habe, dass die Kinder der Täter, der Mitwisser und -läufer rebelliert haben gegen das Vergessen und gegen das Schweigen. Aber eben auch gegen Werte, die ihnen nicht mehr wahrhaftig vorkamen. Das war mir sehr wichtig.« Ihr kulturpolitisches Engagement kulminiert im Amt der Präsidentin der Berliner Akademie der Künste, das sie 2015 übernommen hat. Jetzt, nach drei Wahlperioden, wird im Frühjahr 2024 Schluss sein. »In den letzten Jahren haben wir Akademie-Gespräche und Akademie-Dialoge geführt, um aufzuklären gegen rechts, gegen Intoleranz, gegen Rassismus, und ich würde auch sagen, gegen Dummheit. Leider hat sich der Antisemitismus in Deutschland (und nicht nur hier) über die Jahrzehnte erhalten – ganz weg war er wohl nie. Es ist wirklich nicht hinnehmbar, dass Juden heute in Deutschland Angst haben müssen, sich öffentlich zu zeigen. Es ist nicht hinnehmbar, dass Wohnungen in Deutschland mit einem Davidstern gekennzeichnet werden. Es ist nicht hinnehmbar, dass die Attacken der Hamas öffentlich auf der Straße bejubelt werden. Seit dem 7. Oktober werden Juden in Berlin bespuckt und geschlagen. In Berlin, der Stadt, aus der heraus Hitler regiert hat. Da hat die Akademie der Künste eine besondere Verantwortung und Stellung, der wir uns klar gestellt haben. Wir haben als erste kulturelle Institution die Gewalt der Hamas verurteilt und auch die Gewaltspirale in Gaza selbst nochmal thematisiert. Wir haben aber auch mitbekommen, dass es im Kulturbereich zunächst sehr enttäuschend zuging. Erst nach und nach haben sich die Kulturinstitutionen gegen Antisemitismus geäußert.«
Was genau Jeanine Meerapfel vorhat, wenn sie den Alltag als Akademiepräsidentin hinter sich lassen wird, will sie noch nicht verraten, aber dass künftig weitere Filmproduktionen geplant sind, ist kein Geheimnis. Gerade in Zeiten, in denen insbesondere die sozialen Medien ihren Beitrag zur Verdunkelung von Informationen leisten, haben Künstler den Auftrag, aufzuklären, davon ist Meerapfel nach wie vor überzeugt. Ihr nächster Film, so sagt sie, soll um das Thema Klimaungerechtigkeit kreisen. Privates und Politisches sind für die 68erin Meerapfel zwei Seiten ein und derselben Medaille. Und deshalb macht sie als ihr letztes großes Projekt in der Akademie der Künste das Programm »UTOPIA. Keep on Moving« (19. April bis 26. Mai 2024), das sich mit historischen und gegenwärtigen Utopien auseinandersetzt – ein Thema, dessen gesellschaftspolitische Implikationen ihr wichtig sind und das ihr zugleich persönlich nahegeht.