Ein altes Buch hat mir vor Kurzem geholfen, ein Rätsel des feuilletonistischen Alltags zu lösen. Oft hatte ich mich schon gefragt, warum sich zwar nicht wenige Schriftstellerinnen und Schriftsteller zu den Krisen und Katastrophen der Gegenwart äußern, aber so selten etwas Sinnvolles dabei herauskommt. Man würde sich doch wünschen, dass »die Literatur« zur dringend benötigten Orientierung beitrüge. Aber zu häufig musste ich Texte lesen, denen es an Urteilskraft mangelte. 

Ein Grund, dachte ich, würde in fehlender Lebenserfahrung liegen. Die allermeisten im schreibenden Gewerbe haben nie institutionelle Leitungserfahrung getragen. Sie mögen zwar intelligent und informiert sein, mussten aber nie Entscheidungen von größerer Tragweite treffen. Sie wissen also nicht, wie das ist. Deshalb wirkt ihre Meinungsfreude so hohl. Ein anderer Grund, dachte ich weiter, wäre, dass ihr Beruf darin besteht, gehört und gelesen zu werden. Belohnt wird aber nicht die sachliche, also zumeist langweilige Äußerung, sondern der unverwechselbare Einspruch. Damit wird man zu einer »wichtigen Stimme im öffentlichen Diskurs«. So allerdings droht publizistisches Engagement zu einem Stück Ego-Marketing zu werden. 

Doch eine tiefere Erklärung fand ich in Adam Smiths »Theorie der moralischen Gefühle« von 1759. Dem schottischen Philosophen war nämlich aufgefallen, dass Literaten an einer spezifischen Unsicherheit leiden. Sie übten eine Kunst aus, in der sich das Gelingen einer Leistung nicht beweisen lässt. Das führte zu einer übergroßen »Besorgnis um die öffentliche Meinung«: »Nichts erfreut einen Schriftsteller so sehr als die günstigen Urteile seiner Freunde und des Publikums, und nichts kränkt ihn so ernstlich als deren ungünstige Urteile. Erfolge mögen ihm mit der Zeit ein wenig mehr Vertrauen zu seinem eigenen Urteil einflößen. Indessen kann er zu jeder Zeit durch ungünstige Urteile des Publikums aufs schwerste getroffen und gekränkt werden.« 

Ganz anders sei es bei Mathematikern. Diese besäßen »eine vollständige Gewissheit von der Wahrheit und Wichtigkeit ihrer Entdeckungen«. Deshalb wäre es ihnen »äußerst gleichgültig, welche Aufnahme sie beim Publikum finden«. Ähnlich wäre es bei Naturwissenschaftlern, die »in ihrer Unabhängigkeit von der öffentlichen Meinung den Mathematikern« am nächsten stünden und wie diese eine »Gewissheit und Seelenruhe« in sich trügen, die Literaten fehlte. Deshalb hätten sie kein Interesse daran, an öffentlichen Debatten teilzunehmen, um sich dort eine Vergewisserung zu erkämpfen, die sie in ihrer eigentlichen Arbeit nie fänden. 

Aus Unsicherheit, so Adam Smith weiter, würden sich Literaten, die doch Einzelgänger und Alleinarbeiter wären, häufig in Meinungsgruppen zusammenrotten, um dann in einen Streit zu ziehen: »Sie neigen sehr stark dazu, sich in literarische Parteien zu spalten, wobei jede Clique der tödliche Feind des Ansehens einer jeden anderen ist und all die niedrigen Künste der Intrige und Verhetzung anwendet, um die öffentliche Meinung für die Werke ihrer Mitglieder und gegen diejenigen Feinde und Rivalen einzunehmen.« Als ich dies las, musste ich an all die offenen Briefe und Unterschriftenlisten der letzten Zeit denken sowie an die jammervollen Schriftstellerverbandsquerelen. 

Mathematiker und Naturwissenschaftler dagegen, so Smith, »geraten infolge ihrer Unabhängigkeit von der öffentlichen Meinung nur selten in Versuchung, sich in Parteien und Klüngel zu vereinen, sei es zur Hebung des eigenen Ansehens, sei es zur Unterdrückung desjenigen ihrer Rivalen. Sie sind beinahe immer Menschen von einer äußerst liebenswerten Einfachheit der Sitten. Sie leben in gutem Einvernehmen untereinander. Jeder Einzelne von ihnen ist froh über das Ansehen, das der andere genießt. Sie beteiligen sich nicht an Intrigen, um sich den Beifall des Publikums zu sichern.« Adam Smith hat mir geholfen, den Problemkern so mancher Feuilleton-Erregung besser zu verstehen. Allerdings musste ich mir von jemandem, der sich in diesen Wissensbetrieben auskennt, erklären lassen, dass sein Bild von Mathematikern und Naturwissenschaftlern arg idealisierend geraten sei. 

 

P.S.: Eines hat Smith nicht bedacht: Auch Literaten können sich sinnvoll zu Gegenwartsfragen äußern, wenn sie sich dabei nur ihrer Rolle bewusst sind und genau überlegen, was sie aus einer genuin literarischen Wahrnehmung in ihre ganz eigene Sprache bringen können. Dabei wäre es gut, wenn auch ihre spezifische Unsicherheit zum Ausdruck käme. Womit man wieder bei Adam Smith wäre. 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 5/2024.