Eine Kolumne ist keine Blattkritik. Aber ich möchte dieses Mal meine »Kulturkanzel« nutzen, um auf den Schwerpunkt »Sexualisierte Gewalt im Kulturbetrieb« in der vergangenen Ausgabe von Politik & Kultur zurückzublicken. Denn zum einen hat er etwas Seltenes gewagt, zum anderen hat er bei mir eine Frage zurückgelassen.

Es ist immer noch ungewöhnlich, wenn sich unterschiedliche Institutionen über ein so komplexes und belastendes Thema austauschen. Aber gerade, wenn es um sexualisierte Gewalt geht, ist wenig so hilfreich wie ein angstfreies, kollegiales Gespräch. In den normalen Medien bleibt es allzu häufig bei der an sich berechtigten Skandalisierung einzelner Institutionen (wie im Moment meiner Kirche), was aber selten dazu führt, dass man sich selbst mit dem Problem befasst. Da ist der letzte Schwerpunkt von Politik & Kultur einen entscheidenden Schritt weitergegangen. Sexualisierte Gewalt geht alle an. Da ist es gut, sich miteinander auszutauschen, voneinander zu lernen, sich mit anderen zu vergleichen, um die eigenen Anteile und Aufgaben besser zu verstehen. Denn Tanzpädagogik, Musikschulen, Kulturelle Bildung, Amateur-Theater, Kunsthochschulen, Orchester oder evangelische Kirche stehen vor derselben Herausforderung. Deshalb habe ich diesen Schwerpunkt als eine Ermutigung erlebt.

Wenn ich zum Vergleich eine Anekdote erzählen darf – man sollte bei der Schwere dieses Themas seinen Humor nicht verlieren: Einem Wirtschaftsmedium, zu dem ich einen Draht habe, hatte ich einen Gastbeitrag angeboten zum Thema »Was heißt es, wenn eine Institution sexualisierte Gewalt aufarbeitet?«, aber eine Absage erhalten – mit der Begründung »Das ist bloß etwas, was die Kirchen betrifft, und kein Wirtschaftsthema«. Ach ja, natürlich, alles klar, entschuldigen Sie die Störung!

Doch das Stichwort »Aufarbeitung« führt mich zu meiner Rückfrage. Wenn ich recht sehe, hat sich allein mein Beitrag hiermit beschäftigt. Alle anderen Artikel handelten von Prävention, also davon, wie die eigene Institutionskultur und Arbeitsstruktur in Gegenwart und Zukunft besser werden können. Aber geht »Prävention« ohne »Aufarbeitung«? Wie soll man etwas für die Zukunft verbessern, dessen Vergangenheit man nicht analysiert hat? Muss man sich nicht zuerst der eigenen Schuldgeschichte stellen und dabei in eine Beziehung zu betroffenen Personen eintreten und ihnen zuhören? Ist es nicht eine Falle, zu meinen, durch Schutzkonzepte, Richtlinien, Leitfäden, Beschwerdestellen und andere Maßnahmen das Thema professionell in den Griff zu bekommen? Müsste man sich nicht auch selbst infrage stellen lassen – als Mensch? Müsste man betroffenen Personen nicht mehr Raum geben – eben in einer Aufarbeitung?

Natürlich kann ich nachvollziehen, wenn man vor dieser Aufgabe zurückschreckt. Aufarbeitung ist hochkompliziert, aufwendig, belastend, misslingt oft und wird nicht belohnt. Ich kann alle verstehen, die sich nicht an sie herantrauen. Weil sie die Ressourcen und Kompetenzen nicht haben. Weil sie nicht überblicken, was auf sie zukommt. Weil sie die Konflikte scheuen, die sie dabei eingehen müssen. Weil sie die öffentliche Beschämung, den Reputationsverlust fürchten. Weil sie damit die eigene Institution und Karriere gefährden. Weil sie Angst haben. Aber wäre es dann nicht fair und sinnvoll, wenn man das auch zugibt? »Wir machen gute Präventionsarbeit, aber Aufarbeitung schaffen wir nicht.«

Meine Kirche erlebt gerade die Schwierigkeiten der Aufarbeitung. Die Studie, die sie in Auftrag gegeben hat und an der betroffene Personen als »Co-Forscher« mitgewirkt haben, hat Schuldgeschichten aufgeführt und analysiert, hat die besonderen Faktoren aufgeführt, die in der evangelischen Kirche Grenzverletzung und Gewalt begünstigen, sowie Handlungsempfehlungen ausgesprochen. So verbindet sie »Aufarbeitung« mit »Prävention« und bietet eine hilfreiche Basis für die weitere Arbeit. Aber das Echo in der medialen Öffentlichkeit ist so negativ, dass ich mich frage, ob diese Studie nicht nur die erste ihrer Art ist, sondern auch die letzte bleiben wird.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 4/2024.