Seit Herbst letzten Jahres laufe ich mehrmals die Woche durch die Chausseestraße, blicke aus meinem Bürofenster auf den Dorotheenstädtischen Friedhof – die letzte Ruhestätte vieler berühmter Künstler und Persönlichkeiten. Es gibt sogar eine zweite Chausseestraße in Berlin, in Wannsee, im Westen der Stadt. Doch was macht diese Straße mit dem »doppelt jemoppelten« Namen – schließlich bedeutet Chaussee auch nichts anderes als eine gut ausgebaute Landstraße – aus? Auch wenn die Chausseestraße in Berlin-Mitte nicht zu den berühmtesten Adressen der Stadt zählt, wie die Friedrichstraße oder der Kurfürstendamm, so hat sie doch eine lange Geschichte und steht exemplarisch für das Wachsen der Metropolstadt Berlin, für Brüche und Katastrophen genauso wie für Neuanfänge und die Vielfalt der Stadt, so Holger Schmale. Der Autor bietet mit »Chausseestraße. Berliner Geschichte im Brennglas« ein spannendes Buch, um sich näher mit der Geschichte der Straße zu befassen. In zwölf Kapiteln erzählt Schmale 200 Jahre deutsche Geschichte entlang einer Straße: vom »Feuerland«, wie die Gegend Anfang des 19. Jahrhunderts wegen der vielen qualmenden Schlote genannt wurde – auch heute findet man die Bezeichnung noch rund um die Chausseestraße –, über jüdisches Leben, natürlich den berühmten Friedhof, den Standort des BND, den Grenzübergang Chausseestraße bis zu den Wohnhäusern von Helene Weigel und Bertolt Brecht sowie Wolf Biermann und vielem mehr. Anhand alter Pläne, Adressbücher, Fotos und Dokumente entschlüsselt Schmale die Stadtgeschichte, die ganz unterschiedlichen Lebenswelten und Schicksale, und stellt sie in einen neuen Zusammenhang. Wer anhand der Chausseestraße auch einen Einblick in den Weg Berlins durch zwei Jahrhunderte und fünf Gesellschaftssysteme bekommen möchte, dem sei das Buch ans Herz gelegt.
Holger Schmale. Chausseestraße. Berliner Geschichte im Brennglas. Berlin 2022