Der Wunsch nach einem Neubeginn muss groß gewesen sein an der Hochschule für Musik und Theater München (HMTM). Für viele überraschend, wählte der Hochschulrat in seiner Sitzung am 12. Juli 2022 die Kulturmanagerin, Musikwissenschaftlerin und Publizistin Lydia Grün zur neuen Präsidentin. Am Donnerstag, den 29. September 2022 erhielt Grün die Bestellungsurkunde zur Präsidentin der Hochschule für Musik und Theater München von Staatsminister Markus Blume, ihr Amt an der HMTM trat sie bereits am 1. Oktober 2022 an. Lydia Grün folgt in dieser Funktion auf Bernd Redmann, der die HMTM acht Jahre lang leitete. Lydia Grün ist die erste Präsidentin der Münchner Hochschule. Mit Hochschulpolitik beschäftigt Grün sich als ehemalige Professorin für Musikvermittlung an der Hochschule für Musik Detmold schon seit Längerem. Sie ist Teil von Akkreditierungsteams an Hochschulen und Universitäten und von Jurys im Bereich der Kulturförderung. An der Hochschule in Detmold gehörte sie zum Gleichstellungsteam. 

Neben ihrem beruflichen Hintergrund als Kulturmanagerin, Musikvermittlerin und Professorin hatte sie in einem früheren Lebensabschnitt ihr Geld auch mit IT verdient. Kompetenzen im Aufsetzen digitaler Systeme sowie die Umsetzung der Digitalisierung spielen auch in Fragen der Hochschulverwaltung eine zentrale Rolle. Insofern hat Grün klare Vorstellungen davon, wie man eine Hochschule dieser Komplexität und Größe – eine der größten in Deutschland – fit für die kulturpolitischen, finanziellen und bildungsadministrativen Herausforderungen hält. Wichtig ist ihr, dass dies »nicht nur aus einer abwartenden Haltung heraus geschehen sollte«.  

Auch die aktuellen Vorkommnisse, die Energiekrise sowie der russische Angriffskrieg treiben Grün um und an: »Wir als Kulturschaffende werden stärker in die Verantwortung gehen müssen. Es findet eine Zeitenwende statt: Dieser Krieg hat gezeigt, wie vulnerabel unsere demokratischen Werte sind, die verteidigt werden müssen, und welchen hohen Wert Meinungsfreiheit, Kunstfreiheit und Menschenwürde haben. Der Kriegsbeginn am 24. Februar und auch die Rede von Bundeskanzler Scholz in der darauffolgenden Woche haben mich fundamental erschüttert. Mir wurde schlagartig klar, dass die Zeit und Sicherheit, in der ich bisher leben durfte, vorbei ist. Der Wert unserer individuellen demokratischen Freiheitsrechte und die unantastbare Würde jeder und jedes Einzelnen treiben mich an, genau jetzt in Verantwortung zu gehen.« 

Aufgewachsen ist Lydia Grün in Essen, studiert hat sie in Leipzig, sie arbeitete unter anderem in Berlin und Oldenburg. Die neue Heimat im Flächenstaat Bayern ist ihr aber nicht ganz fremd, die Neu-Münchnerin fühlt sich an der Isar schon heimisch. Gehen wir noch einmal zurück in die vorbayerische Sozialisation Grüns: In Essen war da zunächst das Instrument Blockflöte, das Grün seit ihrem vierten Lebensjahr intensiv spielte und mit dem sie entsprechende Wettbewerbe absolvierte. Als sie mit 18 aber feststellen musste, dass ihre künstlerischen Ziele und die professionale Realität nicht länger deckungsgleich waren, orientierte sie sich neu, entdeckte das (Bürger-)Radio für sich und nahm in Leipzig ein Studium der Journalistik und Musikwissenschaft auf. Sie erinnert sich: »Die Journalistik hat in Leipzig eine lange, auch von der DDR geprägte Tradition. Ich kam Mitte der 1990er Jahre dorthin. Wir haben uns intensiv mit dem Verständnis von westeuropäischem Journalismus auseinandergesetzt. Was ich vor allem in Leipzig gelernt habe, war das Denken des Journalismus aus der Sicht des Handwerks. Darüber hinaus gab es aber auch ein Ausbildungsradio, Mephisto 97,6. Da bildete ich zusammen mit zwei Kolleginnen die erste rein weibliche Chefredaktion.« Es folgten Stationen als freie Autorin für die Öffentlich-Rechtlichen. Besonderes Vergnügen hat sie seit jeher am Moderieren: »Es gibt nichts Besseres, als den Moment der maximalen Anspannung bei einer guten Moderation, weil Sie sich selbst komplett zurücknehmen, gleichzeitig die Stimmungen der anderen zu einem fruchtbaren Ganzen verbinden müssen. Das ist eine faszinierende Bühnenaufgabe.«  

Inzwischen war Lydia Grün Consultant der Init AG Berlin für den Bereich politische Kommunikation oberster Bundesbehörden, Verbände und Stiftungen (2000–2006), Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl »Musik und Medien« von Susanne Binas-Preisendörfer an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg (2007–2008), Referentin für Musik und stellvertretende Referatsleiterin im Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur (2008–2012), Geschäftsführerin von Musikland Niedersachsen (2011–2012) und Geschäftsführerin des Netzwerks Junge Ohren (2013–2019). Im September 2017 wurde sie als Mitglied in den Rat für Kulturelle Bildung berufen, für den sie auch den Podcast Kulturelle Bildung im Gespräch mitmoderierte. Seit Oktober 2019 leitete Lydia Grün als Professorin für Musikvermittlung an der Hochschule für Musik Detmold den Weiterbildungsstudiengang Master of Music »Musikvermittlung/Musikmanagement«. 

Ihrem erfolgreichen Lebenslauf zum Trotz, einen Karriereplan hatte Grün nicht, die Angebote kamen immer an dem Punkt, an dem sie dazu bereit war für neue Bereiche, in denen Handlungsbedarf bestand. Die einzige Situation mit »Eigenbedarf«, wie sich Grün erinnert, war die Zeit nach ihrer Tätigkeit bei der Init AG Berlin. Nach sechs Jahren Consulting hieß es dann für sie: »Bis hier hin und nicht weiter. Das war mir dann zu wenig Kunst. Dennoch war es extrem interessant und lehrreich, im IT-Consulting zu arbeiten. Eine Software funktioniert manchmal ähnlich wie eine Komposition, es kommt aufs Strukturdenken an.« 

Ungefähr mit 30 war die Entscheidung gegen die IT gefallen und für Jobs, die mit Menschen zu tun haben, die Kultur schaffen. »Mich treibt ein Grundverständnis von sozialer Gerechtigkeit. Ich schaue immer genau darauf, wer die Ressourcen und Ressorts verteilt. Zugänge zu Kunst und Kultur schaffen kann man nur dann, wenn man etwas von Kulturfinanzierung versteht, wenn man weiß, wie Förder- und Legitimationsmechanismen funktionieren, wie man kommunizieren muss. Das sind Machtstrukturen. Nur wenn man hier Teil ist, kann man etwas für Kunst und Kultur tun. Vom Spielfeldrand betrachtet, funktioniert das nicht.« 

Die Münchner Musikhochschule stand in jüngster Zeit im Zentrum einer Debatte um Machtmissbrauch. Das hat sich bis zur Wahl von Grün durchgezogen. Nicht nur unausgesprochen erwartet man von ihr, dass sie einen Schlussstrich unter die Verfehlungen ihrer Vorgänger zieht und die Altlasten beseitigt. Dazu gefragt, sagt Grün: »Das Verhältnis von professioneller Nähe und Distanz ist keine Frage, die mir zum ersten Mal an der Münchner Musikhochschule begegnet: Ich war stellvertretende Gleichstellungsbeauftragte in Detmold. Die Münchner Musikhochschule hat Konzepte, wie sie das Verhältnis von Nähe und Distanz in der Lehre, aber auch in der Zusammenarbeit in allen anderen Teilen in der Hochschule regeln möchte. Aus meiner Sicht geht es darum, das weiter entschieden umzusetzen und zu leben.« 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2022.