Nele Rahel Pollatschek, 1988 in Berlin geboren, hat Englische Literatur und Philosophie in Heidelberg, Cambridge und Oxford studiert. An der Oxford University promovierte sie 2018 mit der Arbeit »Writing against theodicy. Evil, secular ethics, and Victorian realism with particular reference to J. A. Froude, A. H. Clough, and George Eliot«. Für ihren Debütroman »Das Unglück anderer Leute« (2016) erhielt sie den Friedrich-Hölderlin-Förderpreis (2017) und den Grimmelshausen-Förderpreis (2019). Es folgte das Sachbuch »Dear Oxbridge. Liebesbrief an England« (2020). Nele Pollatschek schreibt für das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung und erhielt 2023 den Deutschen Reporterpreis des Magazins »Medium«.

Zur Vorbereitung des Interviews mit Nele Pollatschek entscheide ich mich für die Lektüre ihres jüngsten Buches, »Kleine Probleme«, das wie ihre anderen Publikationen bei dem kleinen, exquisiten Berliner Verlag Galiani erschienen ist. Es kam im Sommer 2023 auf den Markt, landete umgehend auf der Spiegel-Bestsellerliste und hat auch Anfang 2024 noch Wirkung etwa in Form des Förderpreises Komische Literatur der Stiftung Brückner-Kühner und der Stadt Kassel für Pollatschek.

Den Buchumschlag von »Kleine Probleme« ziert die Reproduktion eines japanischen Drucks mit einem weißen Reiher, der, auf einem Bein stehend, seinen Kopf ins Gefieder legt und den Betrachter mit seinem Goldauge anschaut. Der Umschlag spricht den Leser nicht nur optisch an, sondern auch haptisch: Das weiße Gefieder ist erhaben, und man kann darüberstreichen und es fühlen. Den Hintergrund bilden goldene senkrechte Striche auf schwarzem Hintergrund. »Das ist der Nieselregen«, sagt die Autorin. Fast die ganze Handlung findet bei Niesel statt. Nele Pollatschek ließ während des Schreibens Bild und Ton von Nieselregen am Laptop laufen, mit dem Ziel, dass die Handlung, die an einem Tag spielt, stets »eine konsistente Stimmung, quasi einen Ton und einen kontinuierlichen Rhythmus hat«. Auch der Reiher steht für sie sinnbildlich für die Stimmung dieses Buches. Er steht auf einem Bein im besagten feinen Nieselregen und versucht münchhausen-mäßig, sich aus dem Sumpf herauszuziehen. »Diese Mischung aus kleinlaut, verzweifelt, beglückt, elegant, tollpatschig macht für mich Sinn«, erläutert Pollatschek, »das ist Lars, die Figur eines Mannes namens Lars«.

Als Leser wage ich eine Interpretation: »Der Reiher steht als Symbol dafür, auf den richtigen Moment im Leben zu warten.« Frau Pollatschek widerspricht nicht, und wir sind mitten in ihrem Roman. Die Story konzentriert sich auf den 31. Dezember eines Jahres und kann gemäß eines Pressetextes von Galiani wie folgt zusammengefasst werden: »›Kleine Probleme‹ ist ein Roman über unser Leben mit tausend unerledigten Dingen, die man später, also morgen, also eigentlich jetzt, schnell tun müsste. Der Held, ein 49-jähriger Familienvater und angehender Schriftsteller, hat sich vorgenommen, in der letzten Woche des Jahres endlich einmal alles zu erledigen, was in der Regel alles so liegen bleibt: Steuererklärung, Wohnungsputz, Bett für die Tochter zusammenschrauben, Lebenswerk schreiben, mit dem Rauchen aufhören. Das neue Jahr, so sein Plan, sollte in einem aufgeräumten Leben beginnen. Doch der 31. Dezember ist inzwischen angebrochen: Es bleiben nur noch wenige Stunden, um doch noch alles zu schaffen.«

»Lange nicht mehr so oft laut gelacht« hieß es in einer Buchrezension, und von einem guten Freund berichtet Nele Pollatschek, der habe beim Lesen nur gelacht und gesagt, »es ist ja keine Note Moll dabei«. Da hat er wohl ein ganz anderes Buch gelesen als beispielsweise ich. Mir ist das Lachen im Hals stecken geblieben: »Kleine Probleme« ist nicht nur ein witziger Roman voller überraschender Wendungen, sondern vor allem ein hintergründiger, psychologischer, ein tragischer und letztlich sehr philosophisch angehauchter. Es ist ein Buch über die Kunst des Liebens und die verzweifelte Angst vor dem Tod. Und darüber, wie schwer es sein kann, ein gelingendes Leben zu leben.

Auf die Frage, für wen sie schreibe, antwortet Nele Pollatschek: »Ich schreibe für alle meine Leser; ich freue mich über jeden Menschen, der sich entscheidet, seine Zeit mit mir zu verbringen. Ich habe mein Bestes gegeben, dieses Buch zu schreiben. Manchmal habe ich das Gefühl, dass Bücher sozusagen korrespondierende Röhren sind. Manchmal trifft einen das richtige Buch zum richtigen Moment in der richtigen Stimmung, und dann beseelt es einen. Auf einer Lesung kam ein Mann zu mir, guckte mich an und sagte: ›Dein Buch ist der Grund, warum ich mir letztes Jahr nicht das Leben genommen habe.‹ Es gibt Menschen, die einen existenziellen Zugang zu Lars haben.«

Und weiter: »Ich bin lebenslang Atheist gewesen und finde das eigentlich keinen schönen Zustand. Literatur beseelt mich. Es geht nicht darum, dass sie mich unterhält oder amüsiert, sondern dass sie mir das Gefühl gibt, eine Seele zu haben, die ich in meinem Alltagsleben nicht habe. Beim Lesen wie beim Schreiben habe ich den Anspruch, dass es darum gehen muss, dass im Menschen etwas ist, was größer ist, als die Küche aufräumen oder die Steuererklärung machen. Ein Gefühl ganz tief in mir drin, dass man nicht alleine ist. Dann gibt es die Momente, in denen dieses Gefühl die Rechtfertigung für die Existenz des Menschen ist, und für diese Momente lese ich und für diese Momente schreibe ich.«

Jetzt, nach der Lektüre von »Kleine Probleme« und nach diesem Interview mit der Autorin, habe ich nicht nur das Gefühl, sondern ich weiß, Nele Pollatschek schreibt auch für mich.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 2/2024.