A n dieser Stelle porträtierten wir im Oktober 2022 die französische Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy. Das kam nicht von ungefähr, denn für ihre Expertise und ihren Einsatz für das Thema Kunstraub und Provenienzforschung erhielt Bénédicte Savoy damals die höchste Auszeichnung des Deutschen Kulturrates, den Deutschen Kulturpolitikpreis. Die Laudatio hielt kein Geringerer als der Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, der evangelische Theologe und Professor für antikes Christentum, Christoph Markschies. Dass er ausgewählt wurde, ist kein Zufall: »Ich leite ein Forschungszentrum über Zeit. Es geht um Konzeption und Erfahrung antiker Menschen von und mit Zeit. Da spielen Objekte eine Rolle und die Zeit von Objekten: Eine antike Sonnenuhr sagt etwas darüber, wie antike Menschen Zeit empfunden haben. Dadurch dass sie heute im Schlosspark in Potsdam Sanssouci steht, sagt sie auch etwas über die Zeit Friedrich des Großen, in der sie an diesen Platz gestellt wurde. Die meisten Objekte haben aber eine Zeit vor ihrer Zeit in Deutschland, in deutschen Museen, Schlössern und Parks. Wenn Sie sich mit der Zeit von Objekten beschäftigen, kommt man automatisch auf Bénédicte Savoy. Es hat sich wie von selbst ergeben, dass wir bei unserem Forschungsprojekt ihre Hilfe nicht nur gebraucht haben, sondern diese in ganz reizend freundlicher Weise von ihr bekommen haben.«  

Kaum zwei Monate später ist der Laudator, der zwischen 2006 und 2010 Präsident der Humboldt-Universität zu Berlin war, seit 2015 Leiter des Berliner Instituts Kirche und Judentum, und seit nunmehr zwei Jahren Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, selbst Gegenstand eines Porträts in Politik & Kultur. Christoph Markschies stammt aus Berlin-Dahlem, wo er als junger Mensch noch Predigten von Helmut Gollwitzer und Kurt Scharf hören konnte, beides führende Mitglieder der Bekennenden Kirche im nationalsozialistischen Deutschland. Zum Thema familiäre Herkunft und Berufswahl meint Markschies: »Meine Mutter war eine kluge Lehrerin für Deutsch und Geschichte und wurde dann Mutter – wie sich das in den 1950er Jahren schickte.« Sein Vater war zunächst nicht das direkte »Role Model« für den späteren Theologen und Historiker: »Er war zuallererst Literaturwissenschaftler, der die Hermeneutik liebte. Als er 1991 meine Dissertation über Valentinus zur Hand nahm – eine Kommentierung von zwölf sehr schwierigen Fragmenten und weiteren Texten –, sagte er zu mir: ›sehr philologisch‹«. Markschies’ Interesse als Heranwachsender galt vor allem dem Fach Geschichte. Den Leistungskurs Geschichte am Gymnasium absolvierte er mit »unglaublichem Spaß« und auch Erfolg: Als 18-Jähriger erhielt er 1980 den Preis des Bundespräsidenten im Bundeswettbewerb »Geschichte«. 

Als dann die Studienwahl anstand, merkte er, dass er wesentlich breitere Interessen hatte: »Ich kommuniziere sehr gerne mit Menschen, beschäftige mich gerne mit metahistorischen Voraussetzungen von Geschichte: ›Warum handelt etwas in der Zeit?‹ oder ›Sind Menschen autonom oder determiniert?‹. Ich dachte, mit all diesen Fragen kannst du dich am schönsten auseinandersetzen, wenn du Theologie studierst. Philologie war auch dabei, Hebräisch, Griechisch, Syrisch, Koptisch, Studien nicht nur zum Alten wie zum Neuen Testament.«  

Gegen Ende des Studiums hatte sich folgerichtig ergeben, dass die Geschichte des Christentums im Umfeld der Religionen sein zentrales Forschungs-, ja Lebensthema wurde. Dass Christoph Markschies als ordinierter Pfarrer regelmäßig in Berliner Kirchen predigt, ist für den Wissenschaftler kein Widerspruch. »Ich forsche über Religion und bin praktisch im Bereich der Religion tätig. Die Kombination von Theorie und Praxis gehört seit dem Mittelalter zur Universität und zeichnet später die Humboldt’sche Universitätsreform aus.« Um es ganz groß aufhängen zu wollen: Markschies will gemäß dem Credo des Akademiegründers Gottfried Wilhelm Leibniz die Theorie mit der Praxis verbinden. 

Seit seiner Habilitation 1994 ist die Vita des Wissenschaftlers Markschies eine temporeiche Karriere mit Stationen an den Universitäten in Tübingen, Jena, Heidelberg und Berlin, aber auch Gastauftritten in Frankfurt, Jerusalem, Oxford und Princeton – um nur einige zu nennen. Ein Eindruck von Rastlosigkeit, Disziplin und enormem Fleiß drängt sich auf. Doch beim Studium seiner Vita sticht ein Punkt ins Auge, der nach Müßiggang aussieht, und der den lebensfrohen, im besten lutherischen Sinne sinnlich-genussfähigen Theologen und Humanisten offenbart: Markschies’ Italienreise im Jahr 1980, direkt nach dem Abitur, hatte Folgen bis heute.  

»Ich war auf einem altsprachlichen Gymnasium: Es lag nahe, sich alles mal anzuschauen, was wir aus den Büchern kannten. Als es darum ging, wohin die eigene Reise nach der offiziellen Klassenfahrt gemacht werden sollte, meinte unser Griechischlehrer: ›Akropolis ist steriler Spargel, fahren Sie nach Paestum. In Paestum lastet das Kapitell noch unterm Gebälk.‹« Paestum gehört als UNESCO-Weltkulturerbestätte zu den wichtigsten Ausgrabungsorten mit Tempel, Amphitheater und Stadtmauer aus römischer und griechischer Zeit.  

Und noch ein Lehrer hatte Einfluss auf Christoph Markschies: sein Kunstlehrer Claus Korch. »Ein Neorealist im guten Sinne«, wie er sich erinnert. Korch hatte den gesamten Oberstufenkunstkurs als Kunstgeschichtsseminar über Florenz gehalten. Das hieß: »Florenz mussten wir sehen. Der Sohn des Griechischlehrers war in einem Berliner Reisebüro tätig und hat uns die Bahnreise in die Toskana und in die Campagna organisiert.« Aus dieser impuls- und ereignisreichen Zeit stammt auch Markschies’ Vorsatz, jedes Jahr einmal nach Italien zu reisen, den er weiter versucht umzusetzen. 

Betrachtet man die Forschungsschwerpunkte von Markschies, insbesondere Gnosis, Montanismus und Pagane Philosophie in der christlichen Theologie, dann beschleicht einen das Gefühl, dass sich Markschies vor allem für Abweichler, Häretiker, vielleicht auch für Menschen, die einen anderen Weg gehen als der Mainstream, interessiert. Er widerspricht: »Nicht nur Abweichler. Mir ist es völlig egal, ob es Abweichler sind oder nicht. Es ist reine Neugier. Viele meiner Fragen entstehen aus Neugier und aus Freude am Forschen. Mit Gnosis habe ich mich beschäftigt, weil ich wissen wollte, wie hat sich die antike Philosophie auf das Christentum et vice versa eingelassen? Wie war das mit Platonismus und Christentum? Mit Montanismus habe ich mich beschäftigt, weil ich es irre fand, dass mitten in Kleinasien Leute lebten, die gesagt haben, hier kommt das himmlische Jerusalem herunter. Da würde man doch nicht an einen kleinen Ort, sondern an das irdische Jerusalem selbst denken. Beim Paganismus, einem anderen und auch nicht sehr freundlichen Wort für Heidentum, interessiert mich ein religiöser Kosmos. Anders gesagt das Thema ›Cafeteria-Religiosität‹ nach dem Motto, wenn mich das Hauptgericht nicht interessiert, kann ich ja auch nur Vor- und Nachspeise verspeisen: Am Schabbes gehe ich in die Synagoge, sonntags in die Kathedrale, später in der Woche auf ein religiöses Volksfest der Apolloanhänger. Dieses antike Amalgam von Religionen, das interessiert mich.« 

Auf der Kanzel spielt Forschung keine Rolle: »Kanzel ist nicht Katheder. Auf der Kanzel ist mir ganz wichtig: Ermutigung. Stärkung, dass man fröhlicher und getroster aus der Kirche geht: ›Auferbauung‹ heißt es beim Apostel Paulus.« Auf das Besondere an seinem jüngsten Job an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften angesprochen, sagt der Präsident: »Erst mal muss man Müntefering widersprechen. Das ist das schönste Amt nach Papst. Und zwar deswegen, weil es in dem häufig sehr reglementierten akademischen Betrieb mit viel Freiheit verbunden ist. Die Akademie ist eine Großforschungseinrichtung, die sich mit kulturellem Erbe beschäftigt: griechische und lateinische Inschriften, Uwe Johnson, Bernd Alois Zimmermann, Marx und Engels, die Regesten mittelalterlicher Kaiser, Leibniz Edition, Edition der beiden Humboldts – der ganze bunte Strauß des weltweiten kulturellen Erbes. Gleichzeitig ist die Akademie der Wissenschaften ein großes Netzwerk zur Gesellschafts- und Politikberatung. Da geht es um Fragen, wie eigentlich die Zukunft nach Corona zu gestalten wäre. Zuletzt sind wir Großkommunikationsagentur für Wissenschaft: Mitte November diskutierte beispielsweise Karl Lauterbach mit der Ethikratsvorsitzenden Alena Buyx – das Haus hat gebrummt, auch, weil wir uns als offenes Haus verstehen.« 

Christoph Markschies ist sich seines Glücks bewusst, für die dritte Phase der Berufsarbeit eine derartige Traumstelle angeboten bekommen zu haben: »Das ist ein unglaublich spannender und anregender Kosmos, der von unseren Mitgliedern, die sich frei ergänzen dürfen, getragen wird. Wir dürfen zuwählen, wen wir wollen. Und Bund wie Länder unterstützen uns freundlichst. Zudem habe er noch nie so tolle, engagierte Mitarbeiter gehabt, ungefähr 400 an der Zahl. Jeden Tag, wenn ich die Akademie betrete, ist das ein Gefühl von Freiheit.« 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2022 – 1/2023.