»Nie wieder ohne uns!« – so lautet ein zuletzt häufig zitierter Slogan der Indigenen Bewegung in Brasilien. Trotz des prozentual geringen Bevölkerungsanteils waren Indigene überaus sichtbar bei der am 1. Januar 2023 erfolgten Amtseinführung von Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, international bekannt als »Lula«. In den ersten Tagen seiner Regierung machte Lula mit symbolträchtigen Handlungen auf die Bedeutung der Indigenen für die Zukunft Brasiliens aufmerksam, darunter die Schaffung eines Indigenen Ministeriums, die Umbenennung der vormals Nationalen Indianerstiftung in Stiftung der Indigenen Völker und die Vergabe ihres Vorsitzes sowie des Amts der Ministerin an je eine Indigene Frau. Hierzulande verfolgt man die Ereignisse mit Wohlwollen. Mit der Wiederwahl Lulas, der bereits im Wahlkampf die Rettung Amazoniens zu einem seiner zentralen Themen erkor, verbindet sich Hoffnung im Kampf gegen den Klimawandel. Amazonien gilt als grüne Lunge des Planeten und die Indigene Bevölkerung als wichtiger Akteur zu deren Bewahrung. Wälder und Indigene sahen sich unter der Vorgängerregion des rechtsradikalen Evangelikalen Jair Bolsonaro fortschreitender Bedrohung und Vernichtung ausgesetzt. Lula steht für einen Neustart, sowohl für die Indigene Bevölkerung als auch für die internationale Umweltpolitik.

Die Wende in Brasilien ist auch für die deutschen ethnologischen Museen von Relevanz. »Nie wieder ohne uns!« kann und soll auch den Umgang mit Artefakten Indigener Gruppen aus Amazonien bestimmen. Während in den vergangenen Jahren insbesondere kolonialzeitliche Sammlungen aus Afrika im Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit standen, sind die Bestände aus der Amazonasregion deutlich unbekannter. Sie gelten gemeinhin als wenig problembehaftet, da Ergebnis wissenschaftlicher Expeditionen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Deutsche Ethnologen sammelten im Geiste der sogenannten Rettungsethnologie möglichst umfassend materielle Erzeugnisse der Indigenen Gruppen Amazoniens, bevor diese von der westlichen Zivilisation überrollt und in ihrer Originalität verschwinden würden. Im Berliner Ethnologischen Museum lagern mehrere Zehntausend Alltagsgegenstände wie Körbe, Fischreusen, Maniokreiben, aber auch Tanzornamente, Ritualinstrumente und Masken, vieles davon ist heute an den Ursprungsorten nicht mehr vorhanden. Am Oberen Rio Negro in Nordwestamazonien beispielsweise sorgten die Salesianer und Montfortaner mit ihrer aggressiven Missionierungsstrategie an vielen Orten für das Verschwinden der Ritualkultur und ihrer materiellen Grundlagen. Zwar geschah dies einige Jahrzehnte nach den Reisen der deutschen Forscher, doch auch sie berichteten von gewaltvollen Verhältnissen, geprägt durch Militär und Kautschukhändler, die nicht selten als Gastgeber und Helfer der Deutschen fungierten. Von Restitutionsforderungen und dergleichen hört man bislang dennoch wenig, einzig im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau des 2018 bei einer Brandkatastrophe zerstörten Nationalmuseums in Rio de Janeiro war die Rede davon, Objekte nach Brasilien zurückzugeben. Wo aber liegen die Interessen der Indigenen selbst? Wie bewerten sie die Tatsache, dass wertvolle Elemente Indigener Ritualkultur in Depots deutscher Museen lagern, während man sie vor Ort nicht mehr findet?

Der Grund, dass bislang keine Restitutionsforderungen laut geworden sind, liegt nicht etwa darin, dass Indigene keine Ansprüche darauf erheben würden. Doch lassen sich diese Ansprüche mit Konzepten wie Objekt, Eigentum und Provenienz nur unzureichend fassen. Tanzornamente aus der Region des Oberen Rio Negro beispielsweise sind aus Indigener Perspektive Körperteile von Ahnen, Begründer der jeweiligen Clans. Im Ritual werden sie von initiierten Männern getragen, die beim Tanzen die mythischen Zeiten des Ursprungs und der Transformation der Menschheit wiederaufleben lassen. Der Palmblattkasten, in dem die Ornamente bei Nichtgebrauch aufbewahrt werden, verweist auf das Anakonda-Kanu mit dem die Menschen der Transformation zu ihren heutigen Territorien reisten. Tanzornamente und Ritualinstrumente zirkulierten auch zwischen unterschiedlichen Clans und Gruppen, meist infolge von Tauschhandel, seltener als Beute bei Auseinandersetzungen. Selbst wenn die Umstände der Erwerbung im Fall der Expeditionen nicht gewaltvoll waren, handelte es sich bei der Stilllegung der Ornamente im Museumsdepot verkürzt dargestellt um einen Unfall, der die notwendige Zirkulation dieser Dinge jäh unterbrach. Restitution viele Jahrzehnte später bei häufig unklaren Angaben zur genauen Herkunft kann diesen Unfall schwerlich rückgängig machen, denn was über so lange Zeit nicht im Gebrauch war und darüber hinaus häufig stark mit Insektenschutzmitteln belastet ist, darf nicht wieder im Ritual zum Einsatz kommen. Im Gegenteil, seitens der Indigenen wird eher auf die Gefahren hingewiesen, die ein solcher Vorgang mit sich bringen würde. Im Kontext von Kooperationsprojekten mit Museen finden Wiederbegegnungen mit den rituellen Instrumenten statt, die bisweilen traumatischen Charakter haben, denn die Ordnungskriterien in Depots und Ausstellungen entsprechen in der Regel nicht den Indigenen Vorstellungen. Bei der Modifikation dieser Ordnungen sollte Zusammenarbeit ansetzen. Ein einseitiger Fokus auf die museale Ordnung wäre dennoch falsch. Die Verlagerung von Instrumenten von ihren Territorien des Ursprungs ins Museum erzeugt eine Beziehung, die aus Indigener Sicht Verantwortung für diese Territorien impliziert. »Nicht ohne uns!« weist den Museen den Weg, diejenigen Themen in den Blick zu nehmen, die für Indigene Partnerinnen und Partner im Zentrum stehen: Unterstützung von Projekten vor Ort, die helfen, die Integrität der Indigenen Territorien zu bewahren, beispielsweise indem die junge Generation für traditionelles Wissen und Techniken sowie für die Bedeutung von Primärmaterialien sensibilisiert wird. Hierbei können die Sammlungen eine wichtige Rolle spielen, auch für das Museumspublikum sind solche Prozesse interessant. Damit sind nicht nur Kulturschaffende und -interessierte angeregt, ihre Vorannahmen über Eigentum, dekoloniales Handeln und Restitution zu hinterfragen, sondern es schließt sich auch der Kreis zwischen umwelt- und museumspolitischen Anliegen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2023.