Der Pokalsieg bei der WM verschaffte den krisenerprobten Argentinierinnen und Argentiniern eine Atempause und neues Selbstbewusstsein. Die Freudenfeiern konnten das politisch tief gespaltene Land aber nur kurzzeitig vereinen und die vielschichtigen Herausforderungen allenfalls überdecken: Die schwere Wirtschaftskrise dauert an, strukturelle Probleme wie Ungleichheit, Überschuldung und Armut wurden durch die Auswirkungen der Pandemie noch verschärft. Mittlerweile gelten mehr als 40 Prozent der Menschen im Land als arm. Insbesondere die stetig steigende Inflationsrate, derzeit mit nahezu 100 Prozent eine der höchsten weltweit, macht bisherige Entwicklungsgewinne zunichte und langfristige Planungen praktisch unmöglich. Gerade die gebildete Mittelschicht wandert aufgrund der fehlenden Perspektiven ins Ausland ab: Mehr als eine Million Argentinierinnen und Argentinier leben heute schätzungsweise im Ausland, ein Großteil wird durch die weitverbreitete Doppelstaatsangehörigkeit dank europäischer Vorfahren statistisch gar nicht erfasst.

Der Bildungssektor ist angesichts dieser Entwicklungen Leidtragender und Hoffnungsträger zugleich: Seit mehr als 100 Jahren setzt Argentinien auf ein modernes Hochschul- und Bildungssystem. Die staatlichen Universitäten folgen dem humboldtschen Modell der Einheit von Forschung und Lehre und genießen große Autonomie und eine demokratische Selbstverwaltung. Sie gelten als Institution der Wissenschaftsfreiheit mit gesamtgesellschaftlichem Auftrag und haben Vorbildfunktion für ganz Lateinamerika. An den 131 Hochschulen Argentiniens sind rund drei Millionen junge Menschen eingeschrieben. Bei knapp 50 Millionen Einwohnern ist die Einschreibequote damit fast doppelt so hoch wie in Deutschland. Rund 80 Prozent von ihnen studieren an den mehr als 60 öffentlichen Universitäten: Sie sind gebührenfrei, lehren forschungsorientiert auf hohem Niveau und ziehen Studierende aus ganz Lateinamerika an. Die übrigen 20 Prozent der Studierenden lernen an der wachsenden Zahl von gebührenpflichtigen und teilweise weniger forschungsorientierten privaten Hochschulen.

Bereits vor Wirtschaftskrise, Pandemie und Inflation stand das Hochschulsystem vor großen Herausforderungen: Die Universitäten sind zwar über alle Provinzen des Landes verteilt, es herrscht dennoch eine starke Zentralisierung. Die Universidad de Buenos Aires (UBA), im QS-World-University-Ranking die am besten bewertete Hochschule Lateinamerikas, vergibt allein 14 Prozent aller Abschlüsse im Land. Mit rund 320.000 Studierenden hat sie fast so viele Studierende wie alle Hochschulen in Baden-Württemberg zusammen. Ein weiteres Problem: Ein Studium dauert in Argentinien traditionell zwischen fünf und sechs Jahren, und nur 40 Prozent der Studierenden schließen es am Ende auch ab. Zudem arbeiten die allermeisten Studierenden und gehen nur in Teilzeit an die Universität. Eine Verkürzung der Studienzeiten oder die Umstellung auf Bachelor und Master ist allerdings weiterhin keine Priorität der Bildungspolitik. Um den multiplen Krisenszenarien nachhaltig begegnen zu können, setzt Argentinien trotz Inflation und Spardruck auf Bildung und Forschung: Die Hochschulen erhielten bislang über mehrere Budgetanpassungen einen Großteil des Werteverlusts ersetzt. Sie treiben auch in der Krise insbesondere die Digitalisierung voran: Gerade in der Coronapandemie wurden Onlinelehre und digitale Hochschulverwaltung schnell und kreativ ausgebaut – vielfach schneller und reibungsloser als in Deutschland. Das zu Coronazeiten neu geschaffene, mit jährlich gut sechs Millionen Euro ausgestattete Förderprogramm zur Virtualisierung der Hochschulen ging mittlerweile in die dritte Förderrunde. Landesweit investieren staatliche Universitäten damit in Ausstattung, Software und Knowhow für eine digitale Hochschulzukunft. Auch die Forschungspolitik Argentiniens ist langfristig orientiert. Mit Blick auf die starke Abwanderung von Akademikerinnen und Akademikern wurde Ende 2022 der ehrgeizige »Nationale Plan für Wissenschaft, Technologie und Innovation 2030« auf den Weg gebracht. Er beschreibt die Ziele der Forschungs- und Innovationspolitik bis zum Ende des Jahrzehnts und enthält als Herzstück eine strategische Agenda zur Lösung der zehn drängendsten Herausforderungen des Landes – etwa integrative Bildung, Beseitigung der Armut, Entwicklung von Raumfahrt, Telekommunikations- und IT-Industrie. Der Pakt stärkt insbesondere die Bereiche Biotechnologie, Meeresforschung, Antarktis, Raumfahrt, IT, Verteidigung. Dafür sollen bis 2030 die Ausgaben für Forschung und Entwicklung von heute 0,85 auf 1,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts verdoppelt werden – eine enorme Anstrengung angesichts von Inflation, Schuldendruck und strengen Sparvorgaben des Internationalen Währungsfonds.

Beim Blick auf die internationalen Kooperationen der Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen zeigt sich eine ungebrochene, fast trotzige Motivation, die weltweiten Partnerschaften auf fachlich hohem Niveau fortzuführen und zu vertiefen. Der Stellenwert von Austausch und Wissenschaftskooperation mit Deutschland ist dabei hoch: Von Regierungsseite wurden beispielsweise bis heute alle Verträge und Verbindlichkeiten in den kofinanzierten Programmen des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) erfüllt, und in den Universitäten setzt die fehlende Finanz- und Planungssicherheit neben vielen Sorgen auch Kreativität und ungeahntes Improvisationstalent frei. Nach dem plötzlichen Umstieg auf virtuelle Lehre und digitalen Austausch während der Coronapandemie nahmen Studierende in gemeinsamen deutsch-argentinischen Studiengängen wegen des Zeitunterschieds über Monate hinweg nächtliche Vorlesungszeiten in Kauf. Wo Geld fehlte, wurden Veranstaltungen kurzfristig verschoben, zusammengelegt oder hybrid durchgeführt. Geriet der Austauschkalender durcheinander, weil die Auszahlung der Stipendien sich verzögerte, wurden alternative Seminare oder Module belegt und zugleich flexibel und großzügig anerkannt. Es zeigte sich, dass so Hochschul- und Forschungszusammenarbeit auch in schwierigen Zeiten gelingen kann.

Das Jahr 2023 wird in Argentinien von den Präsidentschafts- und Kongresswahlen im Herbst geprägt sein. Die meisten Beobachter erwarten einen Regierungswechsel. Es bleibt abzuwarten, ob das Land die bisherigen Weichenstellungen für die Hochschulen beibehält und wie schnell der Nationale Pakt 2030 Wirkung zeigt. Auf deutscher und europäischer Seite rücken die Länder Lateinamerikas bei der Suche nach neuen Handels- und Energiepartnern wieder stärker in den Fokus, wie die Reise von Bundeskanzler Olaf Scholz Ende Januar eindrucksvoll zeigte.

Wenn beide Länder ihre Interessen transparent formulieren und komplementäre Zielsetzungen ernst nehmen, dann liegt auch jenseits von Lithium und grünem Wasserstoff großes Potenzial im wissenschaftlichen Austausch für eine gewinnbringende Zusammenarbeit von Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen in Argentinien und Deutschland – auch und gerade in schwierigen Zeiten.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/2023.