Seit August 2021 lebt Fatimah Hossaini im Exil. Von Paris aus setzt sich die afghanische Fotografin und Aktivistin, die in Teheran, Iran, aufgewachsen und 2018 wieder nach Afghanistan zurückgekehrt ist, weiter für die Rechte afghanischer Frauen ein. In Kabul gründete sie zuvor die Organisation Mastooraat, die sich für Frauen, junge Menschen und Kunst in Afghanistan einsetzt. Ulrike Scheffer spricht mir ihr über ihre Fluchterfahrung und das Leben als freie Künstlerin im Pariser Exil. 

Ulrike Scheffer: Frau Hossaini, Sie gehörten zu den Flüchtenden aus Afghanistan, die nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021 tagelang am Flughafen in Kabul auf einen rettenden Flug ins Ausland gewartet haben. Schließlich fanden Sie Aufnahme in Frankreich und leben heute in Paris. Wie haben Sie sich dort eingelebt?  

Fatimah Hossaini: Ich hätte nie gedacht, dass ich noch einmal gezwungen sein würde, als Geflüchtete zu leben. Meine Großeltern flohen während des sowjetischen Krieges in Afghanistan in den Iran. Dort bin ich aufgewachsen. Trotz der langen Zeit hatte meine Familie allerdings immer einen Geflüchtetenstatus. Wir wurden nie als Staatsbürger anerkannt. Das war ein Grund für mich, nach Afghanistan zurückzukehren. Und nun sitze ich hier in Paris und bin zum zweiten Mal zur Geflüchteten geworden. Das ist eine traumatische Erfahrung. Dieser Schmerz, Afghanistan verloren zu haben, ist immer bei mir. Aber Paris ist andererseits natürlich eine aufregende Stadt, besonders für eine Künstlerin. Ich bin Frankreich sehr dankbar, dass ich hier sein kann. Frankreich hat mein Leben gerettet. Und meine Karriere.  

In Afghanistan haben mutige Frauen viele Monate lang gegen die frauenverachtende Politik der Taliban demonstriert, obwohl sie schlimme Konsequenzen befürchten mussten. Gibt es solche Proteste noch immer?  

In den mehr als 20 Jahren seit der ersten Talibanherrschaft ist eine neue Generation von Frauen herangewachsen. Diese Frauen sind nicht bereit, sich den Regeln der Taliban zu unterwerfen. Sie protestieren weiter. Ich bewundere sie sehr, denn sie gehen ein hohes Risiko ein. Diese Stärke und die Widerstandskraft haben mich schon immer beeindruckt. Das versuche ich auch mit meinen Fotos zu spiegeln. Auch sie zeigen die Widerstandskraft, die Schönheit und die Hoffnung afghanischer Frauen. Sie wollen mehr als gleiche Rechte in der Verfassung, sie wollen frei sein. 

Die Taliban hatten versprochen, Frauenrechte zu achten. Waren das nur leere Versprechen? 

Die Taliban haben sich nicht verändert. Sie sind Terroristen. Sie wissen nichts über die Frauen in Afghanistan. Dennoch haben sie – damals wie heute – vor allem Frauen als Ziel ihres Terrors ausgewählt. Die Männer können weiter ihrer Arbeit nachgehen, sie können sich frei bewegen. Ihr Alltag verläuft weitgehend normal, während das Leben der Frauen ausgelöscht wurde. Die Frauen sind aus der Gesellschaft verschwunden.  

Wie ergeht es Künstlerinnen, die im Land geblieben sind? 

Ehrlicherweise muss man sagen, dass es Künstlerinnen, aber auch Künstler vor der Rückkehr der Taliban ebenfalls nicht leicht hatten. In einem Konfliktgebiet interessiert sich die Regierung wenig für Kunst. Sie fördert sie nicht. Kunst zu machen war daher auch zur Zeit der Republik eine Herausforderung. Nun ist die Situation natürlich noch einmal eine ganz andere. Wie soll jemand an Kunst denken, wenn ihm grundlegende Rechte vorenthalten werden? Die Taliban haben die Kunstfakultät an der Kabuler Universität, an der ich gelehrt habe, geschlossen. Meine Studentinnen sitzen nun zu Hause. Sie machen Selbstporträts oder fotografieren durchs Fenster, um die Stimmung draußen einzufangen.  

Sie erleben die Entwicklungen nun aus der Ferne. Wie fühlt es sich für Sie an, nicht mehr in Ihrer Wahlheimat leben zu können? 

Es ist schwer, in Worte zu fassen, was das für mich bedeutet. Meine Seele ist zerbrochen. Ich versuche aber, weiter meine Stimme zu erheben, für die Frauen, die noch immer in Afghanistan leben. Und ich versuche, weiter künstlerisch tätig zu sein. Denn auch damit setze ich ein Zeichen, dass Frauen aus Afghanistan nicht einfach hinnehmen, wie ihre Rechte mit Füßen getreten werden. 

Sie waren erst 2018 nach Kabul gezogen. Wie kam es zu dieser Entscheidung? 

Ich hatte immer Sehnsucht nach Afghanistan, dem Land meiner Großeltern. Als ich 2013 zum ersten Mal nach Kabul kam, war das wunderbar. Ich habe mich viel freier gefühlt als in Teheran. Dort konnte ich sagen, was ich denke, ohne Angst haben zu müssen, verhaftet zu werden. Es gab auch keine Kleidervorschriften für Frauen, anders als beispielsweise im Iran. Als Künstlerin konnte ich mich frei bewegen und entfalten. 

Westliche Medien berichtetenschon vor der Machtübernahme der Taliban insbesondereüber Anschläge, Armut und schwierige Lebensbedingungen von Frauen in Afghanistan. Wie passt das mit Ihrer Wahrnehmung zusammen?  

Im Ausland wurde ein sehr einseitiges Bild von Afghanistan vermittelt. Die Sicherheitslage war schlecht, das stimmt. Es gab viele Terroranschläge und gezielte Tötungen. Doch in all dieser Dunkelheit gab es viele Lichter der Hoffnung in Kabul. Frauen saßen in Cafés, arbeiteten, eröffneten Geschäfte oder besuchten die Universität. In meinen Seminaren an der Uni saßen sogar mehr Frauen als Männer.  

In Ihrem künstlerischen Werk haben Sie bewusst diese andere Seite Afghanistans gezeigt und dabei Frauen in den Mittelpunkt gerückt. Was hat Sie besonders inspiriert?  

Wenn ich mit meiner Kamera auf den Straßen Kabuls unterwegs war, begegnete ich vielen interessanten Frauen. Sie haben individuelle Geschichten und ganz unterschiedliche Charaktere. Sie sind schön und stark. Auch auf dem Land stechen die Frauen hervor in ihren farbenfrohen Kleidern aus traditionellen Stoffen. Das wollte ich unbedingt zeigen, um dem Bild, das die Welt von afghanischen Frauen hat – von anonymen Gestalten in einer Burka –, etwas entgegenzusetzen. Ich wollte auch das Narrativ der Burka verändern. Auf einem meiner Bilder ist eine Frau zu sehen, die am Steuer eines Autos sitzt, ihre Burka nach hinten geschlagen hat und eine Zigarette raucht. Das Rauchen ist ein Symbol ihrer Freiheit, die ihr auch die aufgezwungene Burka nicht nehmen kann.  

Wie steht es um die Menschen im Exil, besonders um Künstlerinnen, die wie Sie Afghanistan verlassen haben? Erhalten sie Unterstützung?  

Ich persönlich erhalte viel Unterstützung. Ich wurde beispielsweise eingeladen, meine Bilder hier in Frankreich auf dem Fotografie-Festival »Visions de l’Orient« in La Gacilly zu präsentieren. Es war ein sehr emotionaler Moment für mich, sie dort zu sehen. Auch andere Künstlerinnen, die ich kenne, können ihre Arbeit im Exil fortsetzen. 

Vernetzen Sie sich untereinander? 

Ich stehe mit vielen geflohenen Künstlerinnen und Künstlern aus Afghanistan in Kontakt. Sie sind über die ganze Welt verstreut. Wir alle leiden darunter, von unserer Kultur abgeschnitten zu sein. Wie soll man da künstlerisch tätig sein? Hier in Paris treffe ich viele Afghaninnen und Afghanen in einem Atelier, das eine Hilfsorganisation für Künstler im Exil eingerichtet hat. Das hilft uns, mit der schwierigen Situation umzugehen und weiterzumachen. 

Welche Möglichkeiten der Einflussnahme besitzen afghanische Künstlerinnen und Künstler im Exil auf die politischen Entwicklungen in Afghanistan? 

Ich denke nicht, dass wir an der politischen Situation etwas ändern können. Als Künstlerinnen und Künstler können wir jedoch Geschichten über die Menschen in Afghanistan erzählen, über ihr Leben früher und heute. So können wir einen Beitrag leisten, dass Afghanistan nicht vergessen wird. 

In Ihrer Arbeit setzen Sie sich nun mit dem Thema Frauen im Exil auseinander, indem Sie prominente Afghaninnen in ihrer neuen Lebenssituation fotografieren. Was genau wollen Sie zeigen? 

Ich sehe das als Fortsetzung meiner Fotoserie »Schönheit inmitten des Krieges«. Das Exil ist ja auch Teil des Krieges. Und auch hier haben die Frauen ihre Würde behalten. Doch auch die Last des Exils kommt zum Ausdruck. Die Schauspielerin Yasamin Yarmal etwa habe ich gemeinsam mit ihren Töchtern im heruntergekommenen Treppenhaus ihrer Pariser Unterkunft aufgenommen, die Sängerin und Schauspielerin Shegofa Ibrahimi in einem tristen Hinterhof in Lyon. 

Träumen Sie davon, irgendwann nach Afghanistan zurückzukehren?  

Davon träume ich jeden Tag. Wenn ich morgens aufwache, denke ich daran, was ich tun würde, wäre ich jetzt in Afghanistan. Bei der Aufnahme in Frankreich musste ich allerdings unterschreiben, dass ich nicht mehr nach Afghanistan reise. Mein afghanischer Pass wurde eingezogen. Das ist emotional sehr belastend für mich. Dennoch: Eines Tages werde ich zurückkehren. Ganz sicher. 

Vielen Dank. 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2022.